Tolle Maenner
vielleicht war er ja an seinem Computer eingeschlafen -, aber von dort teilte ihr nur der Anrufbeantworter mit, dass sein Speicher voll war. »Verdammt und zugenäht!«
Sie ging zu ihrem Tisch und kam dabei an Molly vorbei, die gerade eine Bestellung aufnahm. Molly schaute zu ihr herüber und bedachte sie mit einem unerträglichen Ich-hab’s-doch-gewusst-Grinsen. Tracie nahm ihren Regenmantel und ihre Tasche, ging zur Tür und stürmte hinaus.
Sie hielt sich die Tasche über den Kopf, um ihr Haar vor dem Regen zu schützen, und lief schnell zu ihrem Auto, wo sie einige Zeit mit den Schlüsseln herumfummelte, bis die Tür aufging und sie endlich einsteigen konnte. Warum zum Teufel wohne ich eigentlich in einer Stadt, in der es ständig regnet? Was ist bloß mit mir los? Dann raste sie wie Mario Andretti durch die regennassen, leeren Straßen der Innenstadt von Seattle. Der Regen prasselte so stark herab, dass er wie ein Vorhang über die Windschutzscheibe hinabglitt. Sie schaute auf die Uhr in der Mittelkonsole und sah, dass Jon inzwischen achtundvierzig Minuten Verspätung hatte.
Tracie raste zu dem Haus, in dem er wohnte, parkte verbotenerweise genau davor und schaltete die Warnblinkanlage ein. Dann hastete sie aus dem Auto und rannte die Treppe zu seiner Wohnung hoch. Lächerlich! Da zahlte er eine horrende Miete und hatte noch nicht einmal einen Aufzug. Typisch Jon!
Ihr Haar – oder das, was davon übrig war – hatte ihr der Regen an den Kopf geklatscht. Aber was macht das schon, dachte sie und wischte das Wasser einfach mit der rechten Hand weg. Als sie an seine Tür kam, keuchte sie, was sie aber nicht davon abhielt, laut an die Tür zu klopfen. Falls er im Bett war, wollte sie ihn herauszerren und ihn in den Regen hinausschleifen und ihn wie ein Hündchen am Kragen packen und baumeln lassen. Aber es rührte sich nichts. Obwohl mittlerweile klar schien, dass niemand öffnen würde, hämmerte sie weiter gegen die Tür. Sie musste etwas tun. Sie durchwühlte ihre Handtasche und fand schließlich einen Filzstift, aber kein Papier, sodass sie auf eine Reihe von Haftnotizzetteln schreiben musste. Auf den ersten schrieb sie: »Ich fasse es nicht, dass« und rammte ihn mit der Faust an die Tür. Die Worte waren vom Regen verschmiert, aber noch leserlich. Dann schrieb sie: »du nach all den Jahren« und klebte den voll geschriebenen Zettel an die Tür. Auf den nächsten kritzelte sie »unsere Verabredung einfach vergessen hast« und drückte ihn neben die ersten zwei. Es gab noch jede Menge zu sagen, doch zum Glück hatte sie zwei Blöcke. »Undankbar.« »Rücksichtslos.« »Gemein.«
Sie schrieb, riss ab und schrieb weiter. Die einzigen Geräusche, die sie hörte, waren die vom Regen, der gegen das Flurfenster prasselte, ihren eigenen schweren Atem und das Kratzen ihres Filzstiftes auf den kleinen gelben Zetteln.
Als sie fertig war, war Jons Tür bis zum Boden mit dreiundzwanzig Zettelchen übersät, auf denen sie ihm erklärte, was für ein Schwein er war und dass sie ihn nie wiedersehen wollte.
Als ihre erste Wut verflogen war, blieb nur noch Traurigkeit zurück. Sie schaute seine Tür an, die ebenso lächerlich aussah, wie sie selbst es war. Typisch – keinerlei Würde, keinerlei Selbstwertgefühl. Er würde wahrscheinlich laut loslachen, wenn er die Zettel sah. Vielleicht sogar in Gegenwart von Allison. Einen Moment lang war sie versucht, alles wieder abzureißen. Dann steckte sie den Rest des Blocks in ihre Handtasche und ging.
Tracie stieg wieder in ihren Wagen und versuchte nach Hause
zu fahren, obwohl sie vor lauter Tränen fast nichts sah. Als sie an der North Street angelangt war, schluchzte sie so fürchterlich, dass sie nach Luft rang. Sie fuhr an den Straßenrand und zog sich ihren Pullover halb aus, sodass ihre Arme zwar frei waren, der Kopf aber bedeckt. Mit den freien Händen rubbelte sie sich das Gesicht sauber.
Als sie die Hände wieder vom Gesicht nahm, sah sie, wenn auch reichlich verwässert, ein Fahrrad an sich vorbeizischen. Was für eine Stadt! Die ganze Zeit Regen und trotzdem noch Verrückte unterwegs. Ihre Tränen strömten noch immer, und außerdem hatte sie einen Schluckauf. Im Gegensatz zum Regen aber versiegten ihre Tränen schließlich. Sie wischte sich über das verquollene Gesicht, legte den ersten Gang ein und fuhr wieder los. Dann überholte sie den Radfahrer, der sie gerade passiert hatte. »Du Schwachkopf! Wohl noch nie was von öffentlichen Verkehrsmitteln gehört,
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