Tolle Maenner
obwohl er nach den drei Mahlzeiten bereits jetzt schier am Platzen war. Trotzdem musste er noch zum Tee sowie zu einem frühen und einem späten Abendessen, bevor er sich um Mitternacht mit Tracie treffen konnte. Finsteren Blicks stieg er auf sein Fahrrad und fuhr in den Regen von Seattle hinaus.
4. Kapitel
Tracie hob den Kopf und schaute zur Uhr. Sie sah sie auch, doch das nützte wenig, da Phil offensichtlich den Stecker herausgezogen hatte, um an der völlig überlasteten Steckdose seine Gitarre anzuschließen. Kein Wunder, dass er immer zu spät kam.
Phils Wohnung war ein echter Dichter-und-Musiker-Verhau. Er teilte sie mit zwei anderen Jungs, und wie es schien, hatte keiner von den dreien je von Mehrfachsteckdosen, Verlängerungskabeln, Staubsaugern oder der Erfindung des Spülmittels gehört. Tracie schloss die Augen, wandte sich von all dem Dreck ab und kuschelte sich an Phils warme Seite. Sie wusste, dass sie aufstehen, sich anziehen und sich mit Jon treffen musste, wie sie es Sonntagnacht immer tat, aber Phil fühlte sich so gut an. Und außerdem war heute Muttertag. Eine Welle des Selbstmitleids schwappte über sie. Nur noch ein paar Augenblicke wollte sie die Grauzone zwischen sexueller Erschöpfung und Schlaf genießen. Sie döste noch eine Weile vor sich hin, schlief wieder ein, und als sie das nächste Mal aufwachte, war bereits die Straßenbeleuchtung angegangen. Es wurde allmählich Zeit.
Vorsichtig, um Phil nicht zu wecken, wickelte sie sich aus den zerwühlten Bettlaken. Als sie aber aufstehen wollte, umklammerte Phil sie im Halbschlaf mit seinen unendlich langen Beinen und zog sie ins Bett zurück. »Komm her, du«, sagte er und küsste sie. Er roch so gut nach Schlaf und Sex und Brotteig, und sie erwiderte den Kuss, bevor sie sich schuldbewusst zurückzog. »Bin gleich wieder da«, versprach sie, und Phil murmelte etwas und drehte sich um.
Tracie kroch aus dem Bett, schlüpfte in ihre Kleider und machte sich fertig, um die Sonntagszeitung zu holen. Mein Gott,
schon Viertel nach neun! Kein Wunder, dass sie fast starb vor Hunger. Sie überlegte, Kaffee, Eier und Toastbrot zu besorgen, dachte dann aber an den Zustand von Phils Küche und nahm Abstand von der Idee. Vielleicht doch besser ein paar Quarkteilchen. Das Kochen überließ sie besser Laura. Tracie tastete in ihrer Jackentasche nach Geld. Ein paar Dollar würden genügen. Vor allem wollte sie die Sonntagszeitung kaufen, um zu sehen, wie sich der Muttertagsartikel machte.
Es war schon seltsam: Obwohl sie jetzt vier Jahre bei der Times arbeitete, verspürte sie immer noch ein gewisses Prickeln, wenn sie ihren Namen in der Verfasserzeile las. Vielleicht war sie deshalb beim Journalismus geblieben. Sie wusste, dass sie als technische Redakteurin bei einer der High-Tech-Firmen in Seattle wahrscheinlich weit mehr verdient hätte, aber Handbücher oder Anzeigen zu schreiben reizte sie nicht sonderlich. Die Unmittelbarkeit der Zeitung hatte für sie etwas Magisches an sich. Die Befriedigung, einen soeben erst fertig gestellten Artikel – noch dazu mit ihrem Namen darauf – schon ein oder zwei Tage später gedruckt zu sehen, hielt sie bei der Stange.
Sie ging zum nächstbesten Imbiss. Sauber war er nicht gerade, und das Essen konnte man vergessen, aber, wie es auch vom Mount Everest hieß, er war eben da. Über der Tür hing ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift ALLES GUTE ZUM MUTTERTAG. Sie bestellte zwei Tassen Kaffee und kaufte einen halben Liter Fruchtsaft, aber von dem reichlich alt aussehenden Gebäck in der verschmierten Auslage ließ sie die Finger. Sie nahm nur noch eine Zeitung. Sie musste ihren Artikel sehen, noch bevor sie den Laden verließ. Sie suchte im entsprechenden Teil der Zeitung, aber er stand nicht auf der vorderen Seite. Sie suchte weiter. Auch nicht auf Seite zwei oder drei. Auf den beiden nächsten Seiten ebenfalls Fehlanzeige. Dann fand sie ihn – ganz unten auf Seite sechs. Verstümmelt und bis zur Unkenntlichkeit verändert. Gemeuchelt und zerstört. Der Text war in Einzelteile zerschnitten und dann wie Frankensteins Monster ungeschickt wieder zusammengeflickt worden. Ihr wurde ganz übel davon.
Verdammt! Tracie überflog ihn noch einmal. Es konnte doch nicht so schlimm sein, wie sie zuerst gedacht hatte. Doch. Es war genau so schlimm.
Sie warf den Rest der Zeitung auf den Ladentisch, drehte sich um und ging hinaus, den Sonntagsteil noch immer in der Hand. Fast hätte sie ihn in den erstbesten
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