Tolle Maenner
hielt Jonathan ihr den Strauß hin.
»Um Himmels willen. Rosen und Gladiolen. Meine Lieblingsblumen! Dass du dir das gemerkt hast!«
Jon fand, dass jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt war, ihr von seinem elektronischen Organizer zu erzählen.
Barbara umarmte ihn noch einmal und er spürte ihren weichen Körper. Offenbar benutzte sie den Trainingsanzug nicht zum Trainieren. »Du bist ja so ein lieber Junge, Jon.« Sie trat einen Schritt zur Seite, um ihn in den Flur zu lassen. »Komm rein. Ich backe gerade süße Brötchen zum Frühstück.«
»Ich wusste gar nicht, dass du backen kannst«, log er widerwillig. Er wollte kein Frühstück und... nun ja, wenn Barbara erst einmal in Fahrt kam, hörte sie so schnell nicht mehr mit dem Reden auf. Zwei Fragen fürchtete er besonders: das übertrieben beiläufige »Hast du in letzter Zeit mal was von deinem Vater gehört?« und das noch schlimmere »Und, hast du eine Freundin?«. Obwohl Chuck selten zu Jon Kontakt aufnahm und Jon fast genauso selten ein Rendezvous hatte, wurde Barbara nie müde, ihn nach beidem zu fragen. Aber das kam wohl daher, dass sie so einsam war. Sie hatte mit seinem Vater keine Kinder gehabt und auch nie wieder geheiratet. Sie schien von der übrigen Menschheit isoliert – nicht nur, weil sie auf der Insel lebte, sondern überhaupt.
»Du musst wenigstens einen Kaffee trinken«, sagte Barbara.
»Na gut, meinetwegen, aber wirklich nur einen Kaffee. Ich habe nicht viel Zeit. Eigentlich müsste ich schon...«
Barbara streckte die Hand nach ihm aus und zog ihn ins Haus. »Und, hast du eine Freundin?«, fragte sie augenzwinkernd.
Jon tat sein Bestes, um nicht zusammenzuzucken. Wenn er nicht schon gewusst hätte, dass das bisschen Zeit, das er auf sein Privatleben
verwendete, glatt verschwendet war, wäre ihm das nach der vergangenen Nacht endgültig klar geworden. Er und Tracie, seine beste Freundin, diskutierten seit Jahren darüber, wessen Liebesleben wohl weniger romantisch war. Diese Woche würde er aus diesem Wettstreit definitiv als Sieger hervorgehen. Oder auch aus definitiver Verlierer. Und als er Barbara in die Küche folgte, wusste er, dass das – so oder so – gar nicht gut war.
Eine Stunde später schob Jon sein Fahrrad behutsam zwischen den Leuten hindurch, die an der Anlegestelle auf der Stadtseite die Fähre über den Puget Sound verließen. Außer ihm schienen nur Paare unterwegs zu sein; es war Sonntagmorgen, und jeder ging Händchen haltend mit seinem Partner. Jeder außer ihm. Er seufzte. Er arbeitete die ganze Zeit – ebenso unerbittlich wie all die anderen dynamischen und erfolgreichen jungen Leute. Die Skyline von Seattle türmte sich mit der albernen Space Needle und den jüngeren Wolkenkratzern am Ufer. Er stieg aufs Rad, überholte rasch die Fußgänger und strampelte in rasendem Tempo Richtung Fifteenth Avenue Northwest.
Weniger als zehn Minuten später legte Jon vor einem luxuriösen Wohnblock eine Vollbremsung hin. Er schaute auf die Uhr, holte einen weiteren Blumenstrauß – diesmal ausschließlich Tulpen – aus seinem Fahrradkorb und kettete sein Rad an eine Parkuhr. Er betrat die Eingangshalle des Gebäudes, einen mit zahlreichen Spiegeln ausgestatteten überladenen Raum, den er noch von früher kannte, wenn sein Vater ihn übers Wochenende mitgenommen hatte. Er drückte den Aufzugknopf, die Tür ging auf, er trat ein und drückte die Nummer zwölf. Obwohl es nur Sekunden dauerte, kam es ihm wie eine kleine Ewigkeit vor.
Der Aufzug hielt an, und es piepste, als die Tür sich öffnete. Jon seufzte erneut, trat aus dem Lift und hielt inne, um sich zu sammeln. Dann klopfte er an eine Wohnungstür. Auf dem Namensschild unter dem Messingklopfer stand MR. & MRS. DELANO, wobei das »MR. &« durchgestrichen war. Eine Frau – ebenfalls mittleren Alters, aber jünger aussehend und weitaus
besser erhalten als Barbara – öffnete die Tür. Sie trug etwas, was man Jonathans Vermutung nach wohl als ein »todschickes Kostüm« bezeichnet hätte.
»Jonathan«, gurrte die Frau. Sie nahm ihm die Tulpen aus der Hand, als hätte sie den Strauß schon erwartet. »Wie schön.«
»Alles Gute zum Muttertag, Mutter.« Jon küsste Janet genau so, wie sie es ihm beigebracht hatte: auf beide Wangen und so behutsam, dass er auch ganz bestimmt nicht ihr kunstvoll aufgetragenes Make-up verwischte.
»Du brauchst mich nicht Mutter zu nennen, dazu bin ich wohl kaum alt genug«, erwiderte Janet mit einem leichten Lachen. Ihre Stimme
Weitere Kostenlose Bücher