Tollkirsche und Korsett: Kates Hunger nach Freiheit (German Edition)
sie an ihre Eltern dachte, legte sich ein Felsklotz auf ihre Seele. Obwohl die beiden ihr sicher nie vergeben würden, schuldete sie ihnen eine Erklärung, warum sie fortgelaufen war. Vielleicht machten ihr Vater und ihre Mutter sich doch ein klein wenig Sorgen um sie.
Nur, was, wenn ihr Vater die hiesige Polizei auf ihre Fährte ansetzte, sobald sie ihn kontaktiert hatte?
Sie schob das Problem vor sich her, aber irgendwann ertrug sie das schlechte Gewissen nicht länger. Also setzte sie sich an den Küchentisch und schrieb einen Brief, dass es ihr gut gehe und sich niemand Gedanken um sie machen müsse. Nachdem sie sich für ihr Weglaufen entschuldigt hatte, versuchte sie, den Grund dafür zu erläutern.
Auf dem Papier ging es einfacher, von ihrer Not zu erzählen; wie sie sich eingesperrt und eingezwängt in ein Korsett von gesellschaftlichen Ansprüchen und Regeln vorgekommen sei. Wie sie sich in all den Jahren unter Madames Kontrolle nach Freiheit gesehnt und diese nun endlich gefunden habe.
Die Nachricht von Easton aus zu schicken, wäre zu gefährlich gewesen. Also entschloss sie sich, den Brief nach Waterlon transportieren zu lassen, und ihn erst dort aufzugeben. Dafür nutzte sie die Bekanntschaft mit einem ihrer Kunden, dessen Sohn als Navigator eines Frachtflugschiffs arbeitete. Als sie ihn mit dem an ihren Vater adressierten Kuvert verschwinden sah, fragte sie sich dann doch, ob sie gerade einen Fehler begangen hatte. Zum Glück wusste Gustav nichts von ihrer Entscheidung, sonst hätte er ihr garantiert in den Ohren gelegen, wie unüberlegt sie wieder einmal gehandelt habe.
Kate spülte Geschirr. Beim Betrachten ihrer schrumpeligen Finger überlegte sie, ob sie Gustav zu einem Hausmädchen überreden konnte. Auch wenn sie die Wäsche außer Haus gaben, und zweimal wöchentlich eine Putzfrau die Räume reinigte, blieb vieles zu tun, was sie ungern erledigte. Außerdem stahlen diese langweiligen Tätigkeiten ihr die Zeit, die sie für die Vorbereitung auf ein Studium brauchte. Gustav wusste noch nichts davon, aber sie plante, im nächsten Sommer die ersten Kurse in Mathematik und Physik zu belegen.
Auf Gustavs Mithilfe im Haushalt konnte sie nicht zählen. Seiner Meinung nach gehörte
Weiberarbeit
nicht in sein Resort.
Das Hämmern des Türklopfers lenkte sie ab.
»Komme!«, rief sie, auch wenn man sie draußen kaum hören würde. Gustav war nicht da, um sie zu kritisieren, deshalb trocknete sie sich die Hände kurzerhand am Rock ab.
Zwei Männer in schwarzen Mänteln und mit fast identischen Schnauzern standen vor der Haustür und musterten sie. Sicher suchten sie Gustav, der im Labor an der neuen Wundsalbe für Babys arbeitete. Sie öffnete den Mund, um ihnen den Weg zu ihm zu weisen, doch der ältere verbeugte sich und sagte: »Baroness, was für eine Freude, Sie endlich gefunden zu haben. Erlauben Sie uns, Mylady ein Schreiben Ihres Vaters zu übergeben.«
Damit zog er einen Umschlag hervor, auf dem das Wappen ihrer Familie prangte. Kate schoss das Blut in den Kopf. Die Welt drehte sich, und sie musste sich am Türrahmen festhalten.
Ihr Brief an die Eltern
, durchzuckte es sie. Wochen waren seitdem vergangen und sie hatte ihn längst vergessen. Wie sollte sie reagieren?
Eins war sicher, ihr dummes Gewissen hatte ihr keinen Gefallen getan!
Was, wenn ihr Vater versuchte, sie nach Anglia zurückzuschaffen, dafür seine Beziehungen nutzte? Zur Not musste sie fliehen. Mit dem, was sie am Körper trug. Würde Gustav ihr Geld senden, wenn sie ihn darum bat? Er und sie verstanden sich nach wie vor nicht besonders gut. Einzig der Betrieb schweißte sie zusammen.
Schließlich zwang sie sich zu einem Lächeln. Bemüht, möglichst unbeteiligt zu klingen, sagte sie: »Sie irren sich in der Adresse. Mein Name lautet Newport und ich bin sicherlich keine Baroness. Ich wohne hier mit meinem Onkel und kann die entsprechenden Papiere vorzeigen.«
An diese zu gelangen, war kein Problem gewesen. Neuanglias Bürokratie befand sich im Aufbau, und so hatten Gustav und sie mit nur wenig Aufwand einen neuen, gemeinsamen Nachnamen annehmen können. Sie besaß zusätzlich noch eine Taufurkunde, die Gustav als ihren Patenonkel auswies und sie zwei Jahre älter machte. Die Arbeit eines begnadeten Fälschers. Als Bezahlung hatte Gustav Pillen für ihn angefertigt, von deren Wirkung Kate lieber nichts wissen wollte.
»Mylady sehen ihrer Schwester außerordentlich ähnlich«, mokierte sich der jüngere Mann und
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