Tolstoi, A. K.
englischen Literatur die französische Auffassung der Vampirliteratur beeinflusst haben.
Was jetzt noch fehlt, ist die Verbindung der Vampirliteratur, die in Europa gängig war, zur russischen Literatur. Das fehlende Glied ist Nikolaj Wassilijewitsch Gogol. Gogol publizierte 1835 die Novelle „Wij“, die laut Bunson „die Wiedergängerthematik in die russische Literatur einführte“ (2001: 111). Obwohl wir davon ausgehen müssen, dass dieses Werk nicht Tolstoïs erster Einfluss war (wenn man die vorhergehende Literaturgeschichte betrachtet), können wir annehmen, dass er den „Wij“, dessen absurde Bilder eine wichtige Rolle im „Wurdalak“ einzunehmen scheinen, kannte (wie wir im nächsten Kapitel sehen werden).
Deutsch, Englisch und Französisch waren wichtige Sprachen zu Tolstoïs Zeiten und er beherrschte sie alle (Lequesne 1993: 10 und Yudina). Man kann davon ausgehen, dass er als reisender und gebildeter Mann Zugriff auf Werke hatte, die im 18. und 19. Jahrhundert im Umlauf waren und diese auch gelesen hat.
Da wir nun mögliche literarische und historische Quellen gefunden haben, die die Basis für Tolstoïs Erzählung hätten bilden können, müssen wir nun die Puzzleteile zusammenfügen.
3. Direkte Einflüsse auf Alexeï Konstantinowitsch Tolstoïs „Die Familie des Wurdalak“
Das Schwierige daran, einem Autor Quellen zuzuschreiben, ist, dass wir keine Beweise für unsere Vermutungen haben, es sei denn, er hätte beim Schreiben Notizen gemacht, die man einsehen könnte. Leider können wir uns in diesem Fall nur auf seine Erzählung „Die Familie des Wurdalak“ stützen.
Den besten Beweis dafür, dass Tolstoï belesen war, finden wir im „Wurdalak“ selbst. Auf der Seite 16 (2012) schreibt der russische Autor: „Der Priester Augustin Calmet zitiert in seinem kuriosen Werk der Erscheinungen fürchterliche Beispiele“. Das Werk Calmets wird zwar nicht namentlich erwähnt, aber wissend, was Calmet geschrieben hat, können wir diesen Satz klar zuordnen. Im selben Paragrafen fährt Tolstoï mit seiner Erzählung über Vampire fort und erwähnt Versammlungen, Leichenexhumierungen, Exekutionen von Kadavern und anderes, das wir aus Fällen der Vampirhysterie Europas kennen. Diese historische Sorgfalt geht Hand in Hand mit dem, was Lequesne über Tolstoï berichtet:
[…] peut-être faut-il y voir également les premiers effets d’un souci d’historien, d’un souci de vraisemblance et d’exactitude : Tolstoï aime à faire parler ses personnages dans leur langue originale, il aime le détail historique, les références à l’Histoire. (5) (1993 : 12)
Wenn wir nun weiterhin in dieser historischen Sorgfalt bleiben, finden wir weitere Hinweise in der Erzählung selbst. Tolstoï nennt nicht nur eine seiner Figuren Georges (dt. Georg), sondern lässt ihn auch noch zum Heiligen Georg schwören: „bekreuzigt Euch oder beim Heiligen Georg …“ (2012: 38).
Der Heilige Georg hat in den Ländern Osteuropas eine wichtige Bedeutung. Laut Bunson
[…] galt der Vorabend des Georgstages [23. April] als gefährlich, weil die bösen Mächte zu diesem Zeitpunkt angeblich besonders aktiv waren. (2001: 109)
Der Georgstag selbst wird nicht erwähnt, aber die mehrfachen Andeutungen von Georg reichen schon aus, um sich der übernatürlichen Kräfte und der abergläubischen Menschen in dieser Erzählung bewusst zu werden.
Dies sind die einzigen historisch eindeutigen Erwähnungen in Tolstoïs Geschichte, alles andere ist Spekulation, und doch können wir immer wieder Schlüsse ziehen, die aufgrund der Beweislage eindeutig zu sein scheinen.
Der nächste Einfluss, der eine wichtige Rolle spielt, ist der Fall des Peter Plogojovitz aus Serbien. Wie im vorhergehenden Kapitel schon erwähnt, wurde der verstorbene Plogojovitz des Vampirismus angeklagt, exhumiert und getötet , doch erst nachdem er neun Personen aus seinem Dorf Kisolova (heutiges Kisiljevo) hatte töten können. Dies scheint der Definition des Wurdalak von Tolstoï sehr ähnlich zu sein, obwohl in Plogojovitzs Fall nicht klar wird, ob es sich um Familienmitglieder handelt oder allgemein um Personen aus seinem Dorf. Wir wissen aus Tolstoïs Erzählung nicht, wie das Dorf heißt, in welchem Gorcha wütet („Als ich nun eines Tages in einem Dorf, dessen Name Sie nicht interessieren wird, ankam […]“ (2012: 14)) und das Jahr in dem die erzähl ten Ereignisse stattfinden stimmt mit Tolstoïs Zeitangabe auch nicht überein (Tolstoï; 1759 und
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