Tolstoi, A. K.
versuchen.
Das Ziel dieser Erläuterungen ist aufzuklären, welche Umstände und Einflüsse den Autor dazu gebracht haben, dieses Werk zu erschaffen.
2. Kurzer Exkurs in die Hintergründe der Vampirliteratur mit Bezug auf Alexeï Konstantinowitsch Tolstoïs „Die Familie des Wurdalak“
Um die Einflüsse auf Tolstoï definieren zu können, müssen wir als Erstes festlegen, wann „Die Familie des Wurdalak“ geschrieben worden ist. Normalerweise geht man bei einer Definition dieser Art so vor, dass man in Erkenntnis bringt, wann ein Werk publiziert worden ist. Nun ist dies bei der „Familie des Wurdalak“ ein bisschen komplizierter. Als ich meine Nachforschungen angefangen habe, bin ich auf viele Daten gestoßen, zu viele möchte man sagen; die meisterwähnten waren 1839, 1840 und 1841. Dazu kamen aber noch weitere Daten wie 1847, 1884 und sogar 1950! Wie sich herausstellte, erschien „Die Familie des Wurdalak“ erstmals im Jahr 1884 (Lequesne 1993: 10 und Yudina). Dies war leider nicht der Originaltext „La Famille du Vourdalak“, sondern eine russische Übersetzung von Boleslav Markewitsch, die in der Zeitschrift Russischer Bote (Russki Westnik) erschien. Die französische Originalversion erschien erstmals 1950 und gehört seither fest in den Kanon französischer fantastischer Literatur (Lequesne 1993: 10).
Somit ist nun geklärt, wann das Werk erstmals veröffentlicht wurde, aber in diesem Falle reicht das Publikationsdatum nicht aus, denn 1884 war Tolstoï schon seit neun Jahren tot. Die Daten, die am meisten vorkommen (auch unter Publikationsdaten), sind 1839, 1840 und 1841. Man kann davon ausgehen, dass Tolstoï „La Famille du Vourdalak“ um diese Zeit geschrieben hat. Da sein erstes publiziertes Werk „Oupyr“ im Jahre 1841 erschien, müsste er den „Wurdalak“ zwischen 1839 und 1840 geschrieben haben (Lequesne 1993: 10 und Yudina). Lequesne gibt ganz spezifisch das Jahr 1840 an (1993: 18).
Die Richtigkeit der Daten ist aus zwei Gründen wichtig: Erstens müssen wir einschränken können, welche literarischen Werke und historischen Ereignisse Tolstoï beeinflusst haben könnten. Zweitens spiegelt dieses Chaos der Daten das Chaos des Zeitverlaufs innerhalb der Erzählung wider (wie wir in Kapitel 4 sehen werden).
Nun, da wir wissen, dass Tolstoï die Erzählung spätestens 1841 beendete, können wir noch weiter in die Vergangenheit zurückgehen und in einem ersten Schritt die Herkunft des Interesses an Vampiren anschauen.
Es ist klar, dass es so ein Wesen wie den Vampir in der einen oder anderen Form schon seit Urzeiten in den mündlich übertragenen Geschichten und Legenden der meisten Völker gegeben hat. Des Weiteren ist es auch klar, dass solchen Wesen wie Vampiren immer wieder die Schuld an Krankheiten, Seuchen und Tod gegeben wurde, zumindest in den östlichen Ländern Europas. Viele dieser Fälle von Vampirhysterien wurden speziell im 18. Jahrhundert verzeichnet.
Einer dieser Fälle ereignete sich im heutigen serbischen Kisiljevo, damals als Kisolova bekannt, im Jahr 1725. Die Einwohner des Dorfes berichteten, dass innerhalb von acht Tagen neun Personen verstorben seien. Sie erlagen nach einer heftigen, 24-stündigen Krankheit dem Tod. Die Dorfbewohner haben
[ … ] öffentlich ausgesaget, da ß [… der], vor 10. Wochen verstorbener [Peter] Plogojovitz, zu ihnen im Schlaff gekommen, sich auf sie geleget und gewürget, daß sie nunmehro den Geist aufgeben müsten; (Wiener Zeitung 1725)
Die Bewohner meldeten dies dem Verwalter des Regierungsbezirks Frombald und erklärten ihm ihren Verdacht auf Vampirismus. Da dieser nicht wie gewohnt die Verwaltungsbehörde um Erlaubnis fragen konnte, ob der Tote exhumiert werden durfte, ging er selbst als Zeuge dieser Vampirexhumierung mit und erstattete Bericht. Frombald beschrieb die Ereignisse folgendermaßen:
Daß erstlich von solchem Cörper und dessen Grabe nicht der mindeste, sonsten der Todten gemeiner Geruch, verspühret, der Cörper, ausser der Nasen, welche abgefallen, gantz frisch, Haar und Barth, ja auch die Nägel, wovon die alten hinweggefallen, an ihm gewachsen, die alte Haut, welche etwas weißlich war, hat sich hinweg gescheelet, und eine neue frische darunter hervor gethan, das Gesichte, Hände und Füsse und der gantze Leib waren so beschaffen, da ß sie in seinen Lebzeiten nicht hätten vollkommener seyn können: In seinem Munde habe ich nicht ohne Erstaunen einiges frisches Blut erblicket, welches, der gemeinen Aussage
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