Tolstoi, A. K.
gleich mit mir / Unerwartet unsern Hochzeitschmaus. // Und schon wechseln sie der Treue Zeichen; / Golden reicht sie ihm die Kette dar, […] Eine Locke gib von deinem Haar“ (Goethe 2006: 108). In der Vampirliteratur kann man dieses Auswechseln von wichtigen Gegenständen mit einer Bluttaufe (6) vergleichen. Von diesem Moment an gehört der Jüngling ganz und gar der jungen Braut.
Die nächste Parallele zwischen der Ballade und der Erzählung ist der Voyeurismus der Verwandten. Goethe lässt die Mutter der jungen Braut das Schauspiel unterbrechen, während Tolstoï hierfür Sdenkas Bruder Georges und ihren Vater Gorcha braucht. Der Unterschied zwischen den zwei Geschichten ist, dass in der „Braut von Corinth“ das Übernatürliche (Braut und Bräutigam) vom Natürlichen (der Mutter) unterbrochen wird (2006: 110-1). Tolstoï kehrt das Ganze um; der Marquis und Sdenka werden in der ersten intimen Szene zuerst von ihrem Vater Gorcha (eindeutig ein Wurdalak ) unterbrochen, der wieder zum Fenster reinschaut und kurz darauf von Georges (von dem man in diesem Moment der Erzählung nicht sicher weiß, ob er schon ein Wurdalak ist oder nicht) (2012: 36-7). In der zweiten intimen Szene ist der Vergleich zu Goethes Ballade ein wenig komplizierter; die einzige Figur, die nicht übernatürlich ist (also kein Wurdalak ist), ist d‘Urfé, der mit dem Wurdalak Sdenka einen intimen Moment durchlebt, welcher wiederum indirekt von Sdenkas ganzen Wurdalak -Verwandten gestört wird (2012: 51). Vielleicht sollte man diese zweite intime Szene nicht unbedingt in den Vergleich des Voyeurismus der beiden Geschichten nehmen, da der Marquis sich eher selbst unterbricht respektive aufweckt und sich so das Leben retten kann.
Im Gegensatz zu Tolstoïs „Wurdalak“ ist Goethes Ballade am Ende doch einfach eine Liebesgeschichte; die Liebenden haben ein Happy End – sozusagen. Die Braut selbst sagt voraus, dass der Jüngling ihr gehört und dass sie aus ihrem Grab gestiegen ist, ihn zu finden und mit in ihr Grab zu nehmen:
Aus dem Grabe werd’ ich ausgetrieben, / Noch zu suchen das vermi ß te Gut, / Noch den schon verlornen Mann zu lieben / Und zu saugen seines Herzens Blut. […] Schöner Jüngling! Kannst nicht länger leben; / Du versiechest nun an diesem Ort. / Meine Kette hab’ ich dir gegeben; / Deine Locke nehm’ ich mit mir fort. / Sieh sie an genau! / Morgen bist du grau, […]. (Goethe 2006: 112)
Tolstoï lässt aber seinen weiblichen Vampir ein bisschen humaner erscheinen; Sdenka will den Marquis d‘Urfé retten, sie liebt ihn und will nicht, dass er stirbt: „Es ist deine Sdenka, die du vergessen hattest. […] Alles ist jetzt zu Ende, du musst gehen; einen Moment länger und du bist verloren! Leb wohl, mein Freund, lebe wohl, für immer!“ und „[…] geht, geht so schnell Ihr könnt, denn wenn Ihr hier bleibt, seid Ihr verloren“ (2012: 46). Doch plötzlich erinnert sich Sdenka an das Versprechen, welches ihr d‘Urfé gegeben hatte und muss ernsthaft mit sich selbst kämpfen, denn sie will ihn:
‚[…] wie damals, als ich die Ballade des alten Königs sang und du in dieses Zimmer gekommen bist? Ist es das, was du sagen willst? Na gut, sei es so, ich gebe dir eine Stunde! Aber, nein, nein‘, fing sie sich wieder ‚geh, geh weg! – Geh schneller, sage ich dir, fliehe! … aber flieh doch, solange du es noch kannst!‘ (2012: 46-7)
Aber es wird immer schwieriger, Widerstand zu leisten, und ihre Liebesgeschichte geht zu Ende, als der Marquis von dem Ort flieht. Obwohl Sdenka ihn noch einholen kann, was ihm klar macht, welche Folgen sein leichtsinniges Versprechen hat: „Halt, halt, mein Freund! Ich liebe dich mehr als meine Seele, ich liebe dich mehr als mein Heil! Halt, halt, dein Blut ist mein!“ (2012: 53) und als Sdenka ihm dies noch ein letztes Mal sagt, sind ihre Worte völlig verzogen und nur noch eine Absurdität.
„Die Braut von Corinth“ und „Die Familie des Wurdalak“ sind zwei grundsätzlich verschiedene Geschichten – und doch findet man in der Liebesgeschichte der jungen Leute eindeutige Parallelen, sodass man ganz klar sagen kann, dass Tolstoï die Ballade Goethes gekannt haben muss.
Im 19. Jahrhundert werden die direkten Einflüsse Tolstoïs wieder schwieriger nachzuvollziehen. Es scheint, dass keine Parallelen zu Tiecks „Wake Not The Dead“ ersichtlich sind. In Tiecks Erzählung erweckt der Protagonist seine lang verstorbene Ehefrau wieder zu neuem Leben. Bald aber entdeckt er,
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