Tolstois Albtraum - Roman
von akuter Schwermut hervor, die in ein Gefühl der physischen Unerträglichkeit des Seins überging.
»Vielleicht sollte ich ganz verschwinden?«
Es war weniger ein Gedanke als ein Gefühl, das in seinem Sonnengeflecht aufstieg, aber dieses Gefühl war so stark und irritierend, dass T. sich auf der Sitzbank der Droschke zurücklehnen musste, um ruhig atmen zu können.
Die Droschke fuhr jetzt langsamer.
»Das ist das Haus von Olsufjew«, sagte der Fuhrmann.
T.s Stimmung schlug plötzlich um, die Niedergeschlagenheit wich einer distanzierten, kalten Entschlossenheit.
»Warum sofort verschwinden?«, dachte er und musterte das Haus, das der Fuhrmann ihm gezeigt hatte. »Das kann ich immer noch. Aber hier kann ich allerlei Neues erfahren …«
Er hatte das Gebäude noch nie gesehen. Die Kellerfenster, die beiden Balkone mit dem Ziergitter in der Mitte der Fassade, der Kragbogen, das steile Dach, die französischen Fenster – nichts davon kam ihm bekannt vor. T. seufzte schwer.
»Wer ist dieser Olsufjew? Ich weiß es nicht mehr, ich weiß nichts mehr … Morgen früh werden wir uns darum kümmern …«
Er betrachtete noch einmal aufmerksam das Dach des Hauses und gab dem Kutscher ein Zeichen. Der Fuhrmann schnalzte mit der Zunge und rollte weiter.
Eine Viertelstunde später betrat T. die Halle des Hotel d’Europe und ging zu der aus dunklem Stein gearbeiteten Rezeption.
Der Rezeptionist hatte pomadisierte, exakt in der Mitte gescheitelte Haare, weshalb er an einen jungen preußischen Offizier erinnerte. Er sah T. so eigenartig an, dass dieser sich genötigt fühlte, etwas zu sagen.
»Sag mal, mein Bester, dieser Lama, na dieser Bonze in dem mongolischen Gewand, der mich besucht hat, ist er nicht mehr wiederkommen?«
Der Hotelangestellte grinste über das ganze Gesicht.
»Ach woher, Euer Erlaucht«, sagte er überschwänglich. »Wie sollte er? Sie haben ihn gestern mit dem Porträt derart vermöbelt, dass er wohl nicht so bald wiederkommt.«
»Mit dem Porträt?«, fragte T. stirnrunzelnd.
»Das er Ihnen mitgebracht hatte, wo dieser Herr mit Bart drauf ist. Dieser Bonze hat Sie ganz schön in Rage gebracht, Euer Erlaucht! Sie sind ihm auf dem Newski noch eine halbe Werst hinterhergelaufen. Sie haben geschrien: ›Achtung‹, und ihn wieder und wieder mit dem Porträt …«
Der Rezeptionist hob beide Arme hoch, zeigte, was genau T. gemacht hatte, und grinste noch breiter. T. maß ihn mit einem missbilligenden Blick.
»Er ist also nicht wiedergekommen«, konstatierte er. »Dann lass mich morgen um fünf wecken. Aber vergiss es nicht, ich habe etwas Wichtiges zu erledigen.«
Der Rezeptionist wurde wieder ernsthaft und machte mit Bleistift eine Notiz in dem vor ihm liegenden Geschäftsbuch.
»Wünschen Sie im Zimmer zu speisen?«, fragte er. »Alles vegetarisch?«
T. nickte.
»Und dann, mein Bester«, sagte er, »schick jemanden zum Laden, solange er noch auf ist. Ich brauche ein paar Zeitungen und eine Flasche Leim.«
Zur Antwort lächelte der Rezeptionist verständnisvoll – auch wenn T. sich nicht vorstellen konnte, was genau er verstanden hatte.
XX
Vom Dach des Hauses Olsufjew aus bot Petersburg einen trostlosen Anblick. Der graue Graben des nahegelegenen Flusses, die Kirchenkuppeln, die aussahen wie die metallenen Brüste der Mutter Heimat, die abschüssigen Dächer, die Treppen, die aussahen wie Stufen zum Schafott – es war verblüffend, wie viele Menschenschicksale am Funktionieren dieses gewaltigen, sinnlosen Mechanismus beteiligt waren.
»Städte sind wie Uhren«, dachte T., »nur messen sie die Zeit nicht, sondern sie erzeugen sie. Jede große Stadt erzeugt ihre besondere Zeit, die nur diejenigen kennen, die darin leben. Jeden Morgen greifen die Menschen ineinander wie Zahnräder, schleppen sich gegenseitig aus ihren Höhlen, und jedes Zahnrad dreht sich bis zum kompletten Verschleiß an seinem Platz, felsenfest überzeugt, dass es sich zu seinem Glück dreht. Keiner weiß, wer die Feder aufzieht. Aber wenn sie zerbricht, wird die Stadt zur Ruine, und dann kommen Menschen, die nach vollkommen anderen Uhren leben, um sie zu begaffen. Die Zeit von Athen, von Rom – wo ist sie geblieben? Petersburg aber tickt noch – sechs Uhr morgens. Wie schreibt die Jugend? ›Nun denn, es ist Zeit, an die Arbeit zu gehen / an die alte, altehrwürdige Arbeit …‹ 66 «
Er packte das am Schornstein befestigte Seil, kletterte über den Rand des Daches und rutschte mühelos die Wand hinunter auf den
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