Tolstois Albtraum - Roman
nämlich gefragt, wer in dem Grab lag – Mandelstam oder ein Kellner, aber so …«
»Von welchem Solowjow reden Sie?«
»Na, Sie wissen schon. Ich meine diesen Fernsehmoderator, tagsüber quatscht er einen in der Glotze voll und nachts verschickt er Spam.« 73
T. lächelte geduldig.
»Ich meine aber den anderen Solowjow«, sagte er, »den, der lehrt, dass man den Leser in sich suchen muss. Und der Optina Pustyn erfunden hat, wohin ich unterwegs bin.«
Ariel hob argwöhnisch die Brauen. Dann malte sich auf seinem Gesicht eine leichte Verlegenheit ab.
»Woher wissen Sie denn von dem?«
»Dostojewski hat mir von ihm erzählt. Also haben Sie schon wieder gelogen?«
»Nein. Aber eigentlich dürften Sie von dem Solowjow gar nichts wissen … Na, vermutlich habe ich das selbst vermasselt. Ich habe noch nicht alle Teile richtig frisiert. Ja, die Figur gab es mal. In dem parallelen Handlungsstrang aus der ursprünglichen Version. Aber den haben wir schon längst rausgeworfen.«
»Und warum?«
»Warum, warum. Wir stecken in einer Krise, wie oft soll ich Ihnen das noch sagen? Und was ist die Konsensidee der Eliten? Die Unkosten zu reduzieren. Schon gut, nehmen Sie es mir nicht übel. Ich erzähle Ihnen die Kurzfassung.«
Ariel goss sich noch ein Glas ein.
»Also«, sagte er, als er ausgetrunken hatte, »ja, es gab diesen Solowjow. Als wir unter Armen Wagitowitsch anfingen, hatten wir mit einem seriösen Budget gerechnet. Deswegen wollten wir im Buch zwei parallele Handlungslinien haben. Ihre Geschichte sollte von der Rückkehr des genialen Freidenkers in den Schoß der Mutter Kirche erzählen. Die Geschichte von Solowjow hingegen sollte von der geistigen Katastrophe erzählen, in die der feinsinnige Philosoph und Dichter durch seine Begeisterung für den östlichen Panmongolismus und den heidnischen Neoplatonismus geriet, die später in eine unkontrollierbare Leidenschaft für den Katholizismus umschlug und mit dem Sturz in den finsteren Abgrund des Ökumenismus endete …«
»Und wie ging es weiter?«
»Das wissen Sie doch sehr gut. Die Finanzierung wurde gekappt, das Ganze wurde verkauft und sollte rentabel werden.«
»Ich meine, wie ging es weiter mit Solowjow?«
»Aus dem wollten wir auch mal einen action hero machen – also haben wir seine Möglichkeiten abgewogen. Zuerst wollten wir ihn mit zwei Kirchenkronleuchtern kämpfen lassen. Grischa Ownjuk hat das vorgeschlagen. Er gibt sich immer Mühe, sich etwas Neues auszudenken, damit es nicht ständig die gleiche Leier ist. Dann haben sie mal gegoogelt, wie diese Dinger aussehen, und beschlossen, stattdessen Brotmesser zu nehmen. Sogar Schüler von Solowjow wollten sie mit reinnehmen – Andrei Bely, der mit der Tapete verschmilzt, und Alexander Blok, der keinen Schlag auslässt. Zu Anfang lief das auch nicht schlecht. Solowjow fing ungefähr so an wie Sie – nur fuhr er nicht im Zug, sondern in einer Diligence, und anstelle einer Kutte trug er eine katholische Soutane. Und natürlich das Brotmesser anstelle eines Revolvers. Aber dann fingen die Probleme an.«
»Welche?«
»Es ist so«, sagte Ariel, »dass für Solowjow ein anderer Autor verantwortlich war, ich will nicht sagen, wer. Als wir anfingen zu überlegen, wie wir rentabel werden könnten, schlug er Folgendes vor: Solowjow erklärt den anderen Helden, dass in ihnen ein Leser steckt. Schriftsteller sind sterblich, aber der Leser ist ewig, oder umgekehrt, das weiß ich nicht mehr. Ich habe es auch nicht so richtig kapiert. Und die Marktforscher haben es erst recht nicht kapiert. Aber kaum hörten sie davon, fingen sie schon an zu spucken.«
»Was hat ihnen denn nicht gepasst?«, fragte T.
»Sie müssen das verstehen: Die haben spezielle Tabellen für die Turingmaschine, mit denen man berechnen kann, wie viel Gewinn sich mit dem einen oder anderen literarischen Zug erzielen lässt. Die Marktforscher behaupteten also, jeder Versuch, den Leser in den Stoff der Erzählung einzubinden, sei für die breite Masse uninteressant und in kommerzieller Hinsicht zum Scheitern verurteilt. Wir haben ihnen gesagt: Verstehen Sie doch – der ›Leser‹ ist hier nur eine Metapher. Woraufhin sie sagten: Verstehen Sie doch, wir haben einen Valutakredit. Und mit den Metaphern müsse man nicht nur den Kredit tilgen, sondern auch eine Kurssteigerung überleben können. Als der Dollar noch bei zweiundzwanzig Rubel stand, hätte man den Leser in den Text einbinden können. Aber heutzutage gehe das nicht mehr. Man habe
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