Tolstois Albtraum - Roman
Elektrizität, die von den Leichen zu seiner Hand strömte, von wo sie durch den Arm und die Wirbelsäule direkt in den Unterbauch floss und ein leichtes, angenehmes Surren im ganzen Körper erzeugte. Augenblicklich verspürte er nur noch einen einzigen Wunsch: dass dieses elektrische Kitzeln nie aufhören möge – doch dann erklang ein leises Knacken und das blaue Leuchten war verschwunden.
Es knackte wieder – und T. schlug die Augen auf.
Unten schlug der Türklopfer.
T. erhob sich von dem Sofa, wo ihn der Schlaf übermannt hatte, und schielte erleichtert zu dem Gewehr hinüber, das gerade eben im Traum noch geschossen hatte. Es hing nach wie vor friedlich an der Wand. Er trat zum Fenster und spähte vorsichtig durch den Vorhang.
Vor der Eingangstür stand eine junge Frau in einem roten Kleid, in der Hand ein seidenes Ridikül von derselben Farbe. Sie blickte nach oben, als erwarte sie, jemanden im Fenster zu sehen, und T. erkannte Axinja.
Sie klopfte noch einmal, zuckte dann die Achseln, holte einen Schlüssel aus dem Ridikül und öffnete die Tür.
T. ließ sich auf denselben Stuhl sinken, auf dem er während der Unterhaltung mit Olsufjew gesessen hatte. Er verspürte eine seltsame nervöse Munterkeit, als hätte der Albtraum tatsächlich seinen ganzen Körper elektrisch aufgeladen.
»So ist das«, dachte er. »Ich wollte das Geheimnis der Welt ergründen, wollte mit dem Leser verschmelzen – und was ist dabei herausgekommen? Warum träume ich nur solche Scheußlichkeiten? Wahrscheinlich will Ariel mir einen qualvollen, schrecklichen Tod bereiten. Wenn ein Dramatiker jemanden umlegt, muss er das Publikum überzeugen, dass er ein widerlicher Typ ist … Damit die Leute kein Mitleid haben …«
T. fuhr herum, als erwarte er, die sich im Dunkel verlierenden, endlosen Reihen eines Theatersaals zu sehen. Aber da war nur der Salon.
»Man erklärt den Menschen, dass sie leiden, weil sie gesündigt haben. Aber in Wirklichkeit lehrt man sie zu sündigen, um ihre Leiden zu rechtfertigen. Man zwingt sie, zu leben wie Vieh, damit man sie schlachten kann wie Vieh. Wie viele arme Teufel in Russland spülen jetzt das Verbrechen, das sie um der Wurst willen begangen haben, mit Wodka hinunter. Hammel im Schlachthof, die noch nicht begreifen, was sie erwartet …«
Sein Blick fiel auf den Gardistenhelm mit dem stählernen Vogel auf dem Tisch. Der kalte Glanz des Metalls ließ ihn mit einem Mal nüchtern werden – und alles stellte sich in einem vollkommen anderen Licht dar.
»Was will ich eigentlich«, dachte er. »Ariel bastelt die Reste des Shooters zusammen und ich philosophiere hier herum und überlege mir, was das alles für einen Sinn hat. Ganz einfach – ein bejahrter Goj-Kabbalist verdient sich sein kärgliches Abendessen … Und was Olsufjew betrifft, das ist auch klar – da ist Grischa Owjnuk am Werk. Ariel hat mich schließlich gewarnt … Aber warum erkenne ich das sonst nicht so deutlich wie in diesem Moment? Und vor allem, warum halte ich diese ganze Bande immer für mich selbst, warum halte ich ihre Gedanken für meine und ihre Taten für meine Handlungen? Könnte es sein, dass ich einfach sie alle zusammen bin? Nein, das kann nicht sein … Dann könnte ich sie nicht erkennen, wenn sie in meine Seele eindringen. Das Wichtigste ist, niemals den klaren Blick zu verlieren und sie zu sehen, sie immer zu sehen …«
Den durch die offene Tür dringenden Geräuschen nach zu schließen, war Axinja noch immer im Vorraum. Von dort war eine Kakophonie aus Knirschen und Knarren, Geraschel und Geklopfe zu vernehmen, die so lange anhielt, dass T. an eine gründliche Durchsuchung in einem Kramladen denken musste. Die nervliche Anspannung verstärkte diesen Gedanken noch.
»Es stimmt«, dachte er, »das Einzige, was ich wirklich tun kann, ist, mich selbst immer wieder nüchtern zu beobachten. Meine einzige Freiheit besteht darin, zu sehen, welcher der bösen Geister sich meiner Seele bemächtigt hat und sie lenkt. Und ich habe die Freiheit, das nicht zu sehen – das ist das ganze to be or not to be . Ich muss mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass ich nicht Ariel und nicht Mitjenka bin. Und erst recht nicht dieser Piworylow, obwohl der aus irgendwelchen Gründen immer mehr Platz bekommt … Keiner von denen ist ich. Aber wer ist dann ich? Ich weiß es nicht. Koste es, was es wolle, ich werde die Antwort finden …«
Endlich waren Axinjas leichte Schritte im Korridor zu hören – sie sang etwas vor sich
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