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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Haus Nummer zwei, Miloserdny - Gasse.
    Er steckte den Zettel in die Tasche, blickte zu dem doppelläufigen Gewehr an der Wand, gähnte und kratzte sich unschlüssig den Bart.
    »Ich hätte ihn nicht alleine fortlassen dürfen«, überlegte er. »Hoffentlich geht das nicht schief … Vielleicht kann ich ihn noch einholen!«

XXII
    Die Straße, die Olsufjew hinunterging, war vollkommen leer, was trotz der frühen Stunde eigenartig wirkte. Während der ganzen Zeit, in der er Olsufjew folgte, begegnete T. keinem einzigen Menschen – und das war gut so, denn das doppelläufige Gewehr in seiner Hand hätte andere Passanten sicherlich stutzig gemacht.
    Dass Olsufjew ein falsches Spiel trieb und man ihm nicht trauen durfte, zeigte sich schon an der ersten Kreuzung, als sich jemand zu ihm gesellte, der ganz offensichtlich auf ihn gewartet hatte – ein livrierter Lakai mit einer voluminösen Tasche auf der Schulter.
    »Ich habe einen Bärenhunger«, fiel T. beim Anblick dieser Tasche plötzlich auf. »Man kann nicht in der materiellen Welt leben und ihre Gesetze ignorieren. Fjodor Michailowitsch jagt in so einem Fall tote Seelen und nimmt ihnen Wurst und Wodka ab … Widerlich … Aber was soll man machen? When in Rome, do as the Romans do, auch wenn unklar ist, in welchem Rom wir uns hier befinden 77 …«
    T. erinnerte sich an die Brille mit dem patristischen Visier in seiner Tasche, holte sie heraus und setzte sie entschlossen auf die Nase.
    Sowohl Olsufjew als auch der Lakai waren von einer deutlichen gelben Aureole umgeben, was die Frage sogleich auf die rein praktische Ebene jenseits von Gut und Böse verlagerte. T. schluckte seinen Speichel hinunter und brachte das Gewehr in Anschlag.
    »Und wie ist es hier mit dem gewaltlosen Widerstand?«, überlegte er. »Schlecht … Das sind schließlich wandelnde Leichen – gemäß landläufiger Vorstellung also etwas Böses. Aber andererseits, was bedeutet gewaltloser Widerstand gegen das Böse? Die Abwesenheit von Widerstand. Widerstand leisten aber kann man nur, wenn das Böse einen zuerst angreift. Wenn man hingegen selbst der Angreifer ist und noch dazu alle schnell umlegt, kommt es erst gar nicht zum Widerstand gegen das Böse …«
    Als hätte er diesen Gedanken gespürt, drehte der Lakai sich um, sah T. und wies Olsufjew auf ihn hin. Der erstarrte. Der Lakai zog einen Revolver aus der Tasche, und das gab den Ausschlag: Ohne weiter nachzudenken, riss T. das Gewehr hoch und gab zwei Schüsse ab.
    Er ging näher heran, hob die Tasche des Lakaien auf und trat ein Stück zur Seite, wo unter einem Schutzdach aus Leinwand ein paar Kisten und Fässer standen. In der Tasche fanden sich eine lange Wurst und eine Flasche Wodka. Der restliche Inhalt bestand aus Gegenständen mit unbekanntem Verwendungszweck – weiße Stäbe, die sich speckig anfühlten und aussahen wie Kerzen ohne Docht, und aus demselben Material gefertigte Ringe.
    »Aha«, erriet T., »der Stab von Poliwanow. Und das ist die Unterlegscheibe von Poliwanow … Das sind die Artefakte … Wahrscheinlich müsste man die Unterlegscheibe über den Stab …«
    Aber er tat nichts dergleichen. Er setzte sich auf eine Kiste, aß die Wurst, kippte den Wodka hinunter wie Wasser und goss den Rest über die Hände, um den Wurstgeruch loszuwerden. Doch das nützte nicht viel – von der Hand ging noch immer ein deutlicher Knoblauchduft aus.
    Er blickte die Leichen an und seufzte.
    »Dumm gelaufen … Aber ich kann belegen, dass ich mich auch hier an die Idee des gewaltlosen Widerstands gehalten habe. Denn die von Gott inspirierten Kategorien von Gut und Böse gelten nur für eine lebende Seele, einer toten Seele aber sind sie fremd – sie hat Gott, den einzigen Maßstab für Gut und Böse, aus sich vertrieben … Folglich … Aber wem versuche ich da, etwas vorzumachen? Die anderen kann ich täuschen – aber mich selbst? Oder schließe ich einen Pakt mit mir selbst? Wieso eigentlich nicht … Jetzt sauge ich noch ihre Seelen aus … Ei-ei-ei …«
    Diese Möglichkeit, die er zunächst mit selbstzerstörerischem Sarkasmus erwogen hatte, wie etwas, was ihm sicher nie passieren könnte, schien ihm mit einem Mal durchaus denkbar, ja sogar ganz angebracht.
    »Ich versuche es mal«, sagte er sich gelassen und stand von der Kiste auf. »Wie hat Fjodor Michailowitsch das gemacht?«
    Mit ausgestrecktem Arm zog er noch halb im Scherz leicht den Bauch ein und sah sofort einen diffusen hellblauen Nebel, eine Art in der Luft schwebende

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