Tolstois Albtraum - Roman
wusste, dass er erleuchtet war, und sah in dieser Geste einen tiefen Sinn. Noch zu seinen Lebzeiten wurde eine Unmenge an Kommentaren verfasst – die einen behaupteten, er zeige so, dass die höhere Wahrheit nicht mit Worten auszudrücken sei, andere erklärten, er verweise auf das Primat der Handlung über das Denken, die Dritten erzählten wieder etwas anderes und so weiter.«
»Aber was hat das alles …«
»Warte, Ljowa. Dieser Weise hatte einen Schüler, einen ganz jungen Mann, der seinem Lehrer in allem nacheiferte und davon träumte, dessen Nachfolger zu werden. Er hatte häufig gesehen, wie der Meister den Finger hob, und gelernt, diese Geste genau nachzuahmen, sogar mit dem entsprechenden Gesichtsausdruck – nur war er nicht erleuchtet.«
Axinja machte eine Pause und blickte T. an. Der zuckte die Achseln.
»Ja und?«
»Zu seinem Lehrer kamen ganz unterschiedliche Leute. Wer viel Geld und Einfluss hatte, wurde natürlich zum Meister selbst vorgelassen. Aber das einfache Volk drängte sich vor seinem Haus, ohne jede Hoffnung, den weisen Mann je zu Gesicht zu bekommen. Mit der Zeit empfing sein Schüler diese Leute in seiner Kammer. Er lauschte ihren Fragen und hob mit kluger Miene einen Finger. Die zufriedenen Besucher gingen nach Hause und freuten sich, dass es ihnen gelungen war, für wenig Geld ein Stückchen Offenbarung zu erlangen. Eines Tages aber erfuhr der alte Meister davon. Am selben Abend nahm er ein Messer, warf sich einen löchrigen Umhang mit Kapuze über und klopfte an die Kammer seines Schülers. Der Schüler meinte, ein neuer Besucher sei gekommen. Mit verstellter Stimme fragte der Meister nach dem Sinn des Lebens. Ohne nachzudenken, hob der Schüler den Finger. Da riss der Lehrer das Messer unter dem Umhang hervor und schlug ihm diesen Finger ab.«
»Aha«, murmelte T. »Und was geschah danach?«
»Danach«, sagte Axinja, »stellte der Lehrer ihm die gleiche Frage laut und deutlich noch einmal. Ohne recht zu begreifen, was er tat, hob der Schüler den Finger, der jetzt nicht mehr da war.«
»Und?«
»Jetzt kommt das Interessanteste«, erwiderte Axinja. »Hätte der Schüler seinen Lehrer einfach für einen Gauner gehalten, hätte er geglaubt, dieser wolle sich einen möglichen Konkurrenten vom Hals schaffen und sich obendrein über ihn lustig machen. Doch der Schüler glaubte ebenso fest wie alle übrigen Besucher im Haus des Alten, dass sein Lehrer erleuchtet war, und …«
»Ja, und wie ging das Ganze aus?«, fragte T. ungeduldig.
»Der Schüler erreichte die Erleuchtung«, sagte Axinja. »Wir dachten, du kennst die Geschichte?«
»Wer ist wir?«
»Vater Empedokles und ich. Wir dachten, du wolltest den Freuden des Fleisches noch den luziferischen geistigen Genuss hinzufügen, den man im Osten Erleuchtung nennt, und dir deshalb den Finger abhacken. Vater Empedokles lehrt, dass den Anhängern der östlichen Dämonenkulte körperliche Freuden allein nicht genug sind und sie den schlimmsten Sündenfall im Geiste begehen, wenn sie in subtilen Gefühlen und überirdischen Ekstasen schwelgen, mit denen die untergegangenen Wesen der unsichtbaren Welt sie verführen. Und indem du dich mit einem unschuldigen Mädchen, fast ein Kind noch, vergnügtest, hast du …«
»Das stimmt ja wohl nicht«, unterbrach T. »Was die Unschuld angeht.«
»Ich meine geistig unschuldig. Im Buch wird das alles aus dem Kontext klar. Halte dich nicht an Kleinigkeiten auf.«
»Du hast alles verdreht«, seufzte T. »Jetzt weiß ich auch, warum mich am Tisch alle so schief angesehen haben, bevor ich die Bom …«
Er stockte und sprach nicht weiter.
»Was?«, fragte Axinja.
»Ach, nicht so wichtig. Ich frage mich nur, wozu du dir das alles ausdenken musstest? Du hast mich doch selbst gefragt, warum ich mir den Finger abhacken wollte. Und ich habe dir klar und deutlich gesagt, um mich vor dem Bösen zu hüten. Kannst du dich nicht erinnern?«
»Doch«, versetzte Axinja.
»Und, hast du deinem Empedokles das nicht erzählt?«
»Habe ich. Aber er hat gesagt, für östliche Satanisten sei es das schlimmste Übel, wenn ihnen dieser subtile geistige Genuss fehlt, der bei ihnen als Erleuchtung bekannt ist. Wie ein Morphiumsüchtiger, für den es das Schlimmste ist, wenn er keine Drogen mehr hat. Geht es nicht darum?«
»Natürlich nicht«, erwiderte T.
Axinja runzelte die Stirn.
»Aber warum wolltest du ihn dann abhacken?«
T. zuckte verlegen die Achseln.
»Das habe ich dir doch gesagt. Um keine Sünde
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