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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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brauchte nicht lange zu warten.
    Hinter der nächsten Kreuzung entdeckte T. auf dem Fahrdamm eine offene Kanalisationsluke, die auf zwei Seiten durch rote Sperrholzplanchetten mit der Aufschrift »Achtung!« abgesperrt war. Das Ausrufezeichen glich tatsächlich einem fetten Zeigefinger – und selbst wenn es nicht der gesuchte Finger des Schicksals war, erinnerte das Wort »Achtung!« doch so deutlich an das Prinzip des gewaltlosen Widerstands, dass das kein zufälliges Zusammentreffen sein konnte.
    Am Rand der Luke stand ein schwarzer Blechzylinder mit einem leuchtenden runden Fensterchen – eine brennende Karbidlaterne. Arbeiter waren keine zu sehen.
    »Wieder unter die Erde, zu Dostojewski?«, dachte T. »Wahrscheinlich sind sie noch nicht ganz fertig mit dem Shooter … Wir werden sehen …«
    Nachdem er sich überzeugt hatte, dass ihm niemand gefolgt war, hockte er sich an den Rand der Luke, steckte die Beine hinein, packte die Karbidlaterne und kletterte in die feuchte, warme Tiefe hinunter.
    Dass das Präparat mittlerweile wirkte, ahnte T., als er erkannte, dass er nicht mehr über die Steigbügel hinunterkletterte, sondern durch einen dämmrigen grauen Tunnel ging. Den genauen Moment, wann die eine Handlung in die andere übergegangen war, hatte er verpasst – der Untergrund hielt ihn in seinem Bann.
    Das bleiche Licht der Laterne verwandelte sich seltsamerweise in ein grünliches Leuchten, das von den Wänden auszugehen schien, und bald kam es T. vor, als ginge er im Innern einer riesigen Lampe. Hier und da wuchs Moos an den Wänden; die übrige Fläche bedeckten in den Putz eingeritzte Namen und Graffiti, die größtenteils nicht zu entziffern waren, weil sie etwas zwischen Schrift und Zeichnung darstellten. Die größte Inschrift jedoch, die sich alle paar Meter wiederholte, war deutlich zu erkennen:
    T. TVAM ASI
    »Beim letzten Mal gab es auch so einen Spruch«, fiel T. ein. »Der hat sich auch immer wiederholt. Aber warum steht der hier in Anführungszeichen? Ich glaube, das ist aus dem Sanskrit: ›T. bist du‹. Was mir natürlich auch so wohlbekannt ist …«
    An einer Gabelung bog T. nach rechts ab. Hundert Schritte weiter ging er nach links. Dann noch zweimal nach rechts. Er hätte unmöglich jemandem erklären können, warum er sich wie entschied. Er konnte es sich kaum selbst erklären und wurde bald unsicher.
    »Ob ich richtig gehe?«, überlegte er. »Letztes Mal hatte ich überhaupt keine Zweifel. Weil ich die doppelte Dosis genommen hatte und das Porträt schleppen musste. Vielleicht trägt deshalb jeder sein Kreuz im Leben – damit man nicht am Weg zweifelt. Denn wenn man ein Kreuz trägt, muss man wissen, wohin es geht … Meistens ja auf den Friedhof.«
    Nach der nächsten, mit ebenso somnambuler Leichtigkeit gewählten Abzweigung waren die Zweifel hinfällig: Ein blendendweißes und anscheinend erst vor Kurzem angebrachtes Graffito flimmerte ihm entgegen:

    T. seufzte. »Wovor habe ich eigentlich Angst?«, dachte er, als sei er aus einem Albtraum erwacht. »Wenn ich Angst habe, heißt das, ich habe mich wieder vergessen. Wie soll ich mich verirren? Das heißt, natürlich wäre das möglich – aber nur, wenn diese Schufte das für ihre Handlung brauchen, und dagegen kann man sowieso nichts machen. Aber von der Handlung her ist es notwendig, dass ich die Kutsche mit Solowjow finde. Ich schätze, so in ungefähr zehn Seiten … Also komme ich schon irgendwo wieder raus … Mich würde vielmehr interessieren, wer bei denen für diese Graffiti verantwortlich ist? Piworylow vielleicht? Sie tauchen immer bei seinen Episoden auf … Aber andererseits hat dieses ›T. tvam asi‹ bestimmt der Metaphysiker geschrieben – der gibt immer so an mit seinem Bewusstseinsstrom und die Aufschrift war doch in Anführungszeichen gesetzt …«
    Er konnte den Gedanken nicht zu Ende führen, weil vor ihm ein Licht aufblitzte.
    T. riss sich zusammen und schlich weiter. Bald kam die Lichtquelle näher und T. erkannte in einer niedrigen Abzweigung ein ganzes Sternbild von Kerzen und Öllämpchen. Die Öllämpchen brannten blau und rosa, und die Kerzenflammen flackerten leicht im unterirdischen Durchzug, so dass das Licht verschwommen wirkte wie im Traum. Menschen waren in der Sackgasse keine zu sehen – es gab nur einen Stuhl, darauf ein kleiner Sack aus Fell.
    Ein paar Schritte weiter lag ein milder, leicht vergrämter Geruch in der Luft, wie man ihn beim Begräbnis frommer alter Frauen riechen kann. T.

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