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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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erwiderte der Alte. »Aber das ist lange her. Jetzt bin ich ein einfacher Beter. Ich bete für die, die da oben sind, dass die Eisfläche unter ihnen nicht vor der Zeit bersten möge. Ich bete auch für Sie, da Sie mich schon gefunden haben. Gut möglich, dass Sie auch diesen Mann bald finden …«
    Das Gesicht des Alten wurde blass und ernst, und diese Ernsthaftigkeit übertrug sich zum Teil auf T.
    »Ich bin exkommuniziert«, sagte er.
    »Ich weiß.« Der Alte nickte. »Doch wenn ein Gebet von Herzen kommt, dann gelangt es an die richtige Stelle, glauben Sie mir. Sie können wohl nicht beten?«
    Der Alte erhob sich von seinem Stuhl und trat rasch zu einem mit grobem grauem Tuch verhängten Ikonenschrank (der Vorhang war von derselben Farbe wie die Wand, und T. bemerkte ihn erst jetzt, obwohl sich der Ikonenschrank im Zentrum des Sternbilds aus Kerzen und Öllämpchen befand). Er nahm ein kleines Büchlein vom Kerzentisch und hielt es T. hin.
    Es war weniger ein Buch als ein himbeerfarbener Lederumschlag, wie bei einer Speisekarte im Restaurant, mit Wachs bespritzt. Darauf glänzte eine goldgeprägte wellenförmige Linie, die aussah wie diejenige oberhalb des spanischen Buchstabens »Ñ« – nur ohne den Buchstaben selbst. T. runzelte verwirrt die Stirn.
    »Irritiert Sie die Tilde?«, fragte Fjodor Kusmitsch, der ihn aufmerksam beobachtet hatte. »Gebildete Leute versuchen immer, dieses Zeichen zu erklären. Die interessanteste Erklärung hatte übrigens der unvergessliche Solowjow …«
    T. fuhr zusammen.
    »Sie kannten Wladimir Solowjow?«
    »Flüchtig«, erwiderte Fjodor Kusmitsch. »Er kam früher manchmal hier vorbei, aber das ist lange her. Ein großer Wirrkopf. Er sagte, die Tilde gleiche einer Welle und sei ein Sinnbild dafür, dass der Mensch nicht das einzelne Wesen ist, als das er sich sieht, sondern eine Welle in dem einen Ozean des Lebens … Als hätte der wahre Glaube es nötig, dass irgendein Solowjow ihm einen Sinn verleiht …«
    T. zögerte eine Sekunde, ob er Fjodor Kusmitsch sagen sollte, dass es Solowjow war, den man in der Kutsche bringen würde – und entschied sich dagegen.
    »Andere«, fuhr Fjodor Kusmitsch fort, »sehen darin das Zeichen, dass nach dem geistigen Aufschwung unausweichlich der Niedergang und nach dem Niedergang wieder ein Aufschwung folgt. Wieder andere lehren, die Tilde sei das geheime Zeichen des Herrn, die zerrissene Unendlichkeit, und ihr Sinn bestehe darin, dass die Unendlichkeit unsere Kette ist, eine Fessel, die nur die Gottheit zerschlagen kann. Und meiner Meinung nach quält man sich besser nicht mit Herumphilosophieren, sondern nimmt das Ritual so, wie es zu uns gekommen ist …«
    Fjodor Kusmitsch wandte sich dem Ikonenschrank zu, schlug den Vorhang zurück, und obwohl er ahnte, was er sehen würde, zuckte T. zusammen.
    Von einer rußgeschwärzten Tafel blickte ein flaches Katzengesicht (er konnte es unmöglich als Maul bezeichnen) auf ihn herunter. In diesem Antlitz schien etwas Spöttisches und Listig-Tatarisches zu liegen, und die Schnurrbarthaare glichen weniger einer Tilde als vielmehr sechs Paragrafenzeichen. Die Katzenaugen waren ausdruckslos und klein.
    »Wir wollen beten!«, sprach Fjodor Kusmitsch und vollführte vor der Brust eine wellenförmige Bewegung mit der Hand, als zeichne er eine Tilde in die Luft. Danach verneigte er sich vor der Ikone und sprach monoton vor sich hin, zuerst leise, dann lauter und lauter.
    T. schlug das rote Büchlein auf. Darin lag ein Blatt Papier, dunkel vor Kerzentalg, auf dem in Kursivschrift stand:
    ~
    god
    give_health
    give_ammo
    give_armor
    noclip
    no target
    jump_height 128
    timescale.25
    ~
    Den Lauten nach zu urteilen, die T. vernahm, las Fjodor Kusmitsch genau diesen Text, wobei er allerdings merkwürdig betonte und an den unerwartetsten Stellen eigentümlich aufheulte, so dass diese einfachen Worte sich wirklich anhörten wie mystische, uralte Beschwörungsformeln, voller Macht und Geheimnis: »Givammoj! Givarmoj!« Fjodor Kusmitsch war beim Beten offensichtlich mit ganzem Herzen dabei: Bei den Worten »no target« kniete er nieder und hielt den linken Arm vor sich ausgestreckt, als schütze er sich mit einem unsichtbaren Schild, und bei »jump height« sprang er hoch und klatschte laut in die Hände – und T. ahmte diese Bewegungen unbeholfen nach.
    Das Gebet endete so, wie es begonnen hatte – mit einem wellenförmigen Schlenker der Hand.
    »Und jetzt gehen Sie, Graf«, sagte Fjodor Kusmitsch. »Verlassen Sie

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