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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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dieses Petersburger Horrorklischee«, überlegte er, »der tote Beamte, der in einer regnerischen Nacht am Fenster einer Generalskutsche klebt. Solowjow wird in einer Kutsche gebracht, also ist diese Kampfkleidung ganz angebracht. Aber wie soll ich an ihn herankommen? Warten, bis die Kutsche aus der Peter-und-Paul-Festung gefahren kommt? Und was dann? Mit der Sense dreinhauen? Das ist nicht mal komisch …«
    Aus dem Spiegel blickte ihm ein pensionierter Beamter mit zerzaustem grauem Bart entgegen. Gebückt unternahm T. einige unbeholfene Schritte auf dem Parkett. Dann versuchte er zu hinken. Es wirkte etwas karikiert, aber überzeugend.
    »So weit ganz passabel. Und jetzt? Ich kann mich doch wahrhaftig nicht mit der Festungsbesatzung schlagen. Messer werfen auf dem Newski Prospekt – das ist irgendwie mauvais genre . Außerdem hängt es mir langsam zum Hals heraus, wenn ich ehrlich bin … Ganz zu schweigen davon, dass praktisch keine Messer mehr da sind. Zu Pferd hinterherjagen? Unmöglich – das sieht man auf eine Werst. Und eine Verfolgungsjagd zu Pferd mitten in der Stadt, das ist ja wie bei Dumas. Ein Hinterhalt? Bei der Festung geht das nicht, vor allem im Alleingang. Und wohin sie Solowjow bringen, weiß Gott allein …«
    Diese Formulierung schien ihm sofort dubios.
    »Gott allein? Vielleicht wissen es alle fünf. Aber das ist nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist, dass es vermutlich zu ihrem Plan gehört, dass ich die Kutsche finde. Warum soll ich mir den Kopf zerbrechen? Ich brauche mich nur auf die Vorsehung zu verlassen. Sie wird mich zum richtigen Ort führen, wenn dieses Pack den Kredit zurückzahlen muss. Aber wie soll ich es formal angehen?«
    Er warf noch einen Blick auf sein Spiegelbild. Der pensionierte Beamte im Spiegel dachte angestrengt über irgendetwas nach.
    »Es muss etwas Unerwartetes sein, etwas Unvorstellbares … Etwas, das niemand auch nur ahnen kann … Wenn man sich auf den Willen Gottes verlässt, so heißt es, gibt man den eigenen auf … Und wenn ich …«
    Der Gedanke schien T. auf den ersten Blick etwas unheimlich. Doch im nächsten Moment war ihm klar, dass er keinen besseren Ausweg finden würde.
    T. ging zum Spiegel neben der Tür und zog die Schublade des Spiegeltischs heraus. Die silberne Schatulle in Form eines Schädels befand sich an demselben Platz, wo er sie nach der Begegnung mit Dschambon hingestellt hatte.
    In der Schatulle lag noch die letzte, wie eine graue Träne geformte Pille.
    »Zwei waren definitiv zu viel«, dachte T. »Aber eine ist gerade richtig.«
    Ohne sich Zeit zum Überlegen zu lassen, warf er die Pille in den Mund, schluckte sie hinunter und goss sich erst dann Wasser aus der Karaffe zum Nachtrinken ein.
    Auf der Stelle überkam ihn die Reue.
    »Warum habe ich das nur getan?«, dachte er. »Warum breche ich wieder willenlos zusammen … Stopp, stopp, nur keine Selbstbeschuldigungen. Nicht schlafen. Niemand bricht zusammen. Sie haben einfach den Part von der Entführung der Kutsche nicht Ownjuk, sondern Goscha Piworylow gegeben. Wahrscheinlich hatten sie nicht genug Geld für Ownjuk. Sie sparen, diese Gauner. Oder sie klauen … Wahrscheinlich eher Letzteres. Sie haben bestimmt von Pantelejmon einen Vorschuss für Ownjuk bekommen, das Geld unter sich aufgeteilt und dem Neger Goscha zehn Prozent zugeschoben. Und in meinen Adern kreist schon das langsame Gift … Das machen sie schon lange so, diese Schufte, wieso habe ich das nicht früher erkannt …«
    T. nahm die Sense und hängte sie mit dem Griffring an einen speziellen Haken, der an das Mantelfutter genäht war. Er betrachtete sich ein letztes Mal prüfend im Spiegel, stülpte die Schirmmütze über die Augen und verließ das Hotelzimmer.
    Auf der Treppe begegnete ihm ein junges Paar – ein Offizier in weißer Uniformjacke und eine Dame in einem leichten Musselinkleid, unter dem die zarte Haut von Armen und Schultern hervorschimmerte. Sie war in der Blüte ihrer Jugend – und so blendend schön, dass T. ihr lange hinterherblickte.
    »Mitjenka«, dachte er sofort. »Jetzt ist Mitjenka am Werk. Gut, ich schlafe nicht …«
    In der Halle drehte er sein Gesicht zur Wand und ging rasch an der Rezeption vorbei. Die ins Gespräch vertieften Rezeptionisten beachteten ihn gar nicht. Er verließ das Hotel und bog in eine Seitenstraße ein, die vom Newski wegführte.
    »So, wo ist er, der Zeigefinger des Schicksals? Wenn meine Einschätzung stimmt, müsste jetzt irgendein Zeichen kommen …«
    Er

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