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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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sich nicht mehr auf sich selbst – vertrauen Sie sich der Vorsehung an. Der Herr trägt die ganze Last der Welt – da sollte er Sie nicht zum Ziel führen? Unterwerfen Sie sich ihm und Sie werden, das spüre ich mit dem Herzen, denjenigen finden, den Sie suchen … Nun, gehen Sie. Aber schnell – solange Sie noch ein wenig Vertrauen haben …«
    T. verneigte sich zum Abschied vor dem Alten und ging schnell weiter, wobei er die Worte des Gebets in seinen Ohren nachklingen spürte.
    Nach ein paar Schritten bemerkte er, dass er die Laterne vergessen hatte, aber er wollte nicht umkehren – der Tunnel wurde durch das diffuse grünliche Leuchten gerade so weit erhellt, dass er den Weg erkennen konnte. Nachdem er zweimal um die Ecke gebogen war, erblickte er in die Wand eingelassene, senkrecht übereinander angeordnete eiserne Steigbügel, die zu einer Scheibe blauen Abendlichts hinaufführten – die Luke über seinem Kopf stand offen.
    Wie in Trance kletterte T. nach oben und lehnte sich hinaus in den warmen Petersburger Abend, wobei er die neben der Luke stehende Planchette mit dem Wort »Achtung!« umstieß (es war dieselbe Luke, durch die er zuvor hinuntergeklettert war).
    Das Erste, was er sah, war ein auf der gegenüberliegenden Straßenseite langsam dahinrollender Gefängniswagen.
    Er wirkte wie ein gedrungener schwarzer Krebs – mit gelben Adlern auf den Türen, Gittern vor den verdunkelten Fenstern und seltsamen elektrischen Spulen auf dem Dach. Auf dem Bock saß ein einsamer Kutscher; eine Wachmannschaft gab es nicht.
    T. sprang mit einem Satz auf die Straße, ging auf den Wagen zu und zog dabei die rostige Sense aus seinem mit unterirdischem Dreck bespritzten Mantel hervor.
    »Guter Mann!«, rief er dem Kutscher leise zu, als er schon fast am Ziel war.
    Als der Kutscher einen zotteligen Beamten mit einem schrecklichen Gerät in der Hand erblickte, sprang er vom Bock herunter und lief über die Straße davon. Er lief nur schleppend – offenbar war ihm der Schreck so in die Glieder gefahren, dass er ihn hinderte, schneller vorwärtszukommen.
    Die Wagentür war mit einem massiven Riegel zugesperrt und mit einer Bleiplombe an einem Draht versiegelt. T. klopfte an das kleine Fenster. Keine Antwort. T. klopfte wieder, dieses Mal stärker und an die Tür.
    »Herr Solowjow, sind Sie am Leben?«
    Wieder keine Antwort. Daraufhin erbrach T. das Siegel mit der Sensenklinge, klappte den Riegel zurück und riss die Tür auf.
    Aus dem Wagen drang ein unangenehm süßlicher Geruch. Im Innern, auf einem mit Wachstuch ausgeschlagenen Sitz, war undeutlich eine reglose menschliche Gestalt zu erkennen, ganz mit Stoff verhüllt, wie eine mohammedanische Frau oder ein toter Matrose.
    »Er hat bestimmt einen Knebel im Mund«, dachte T.
    Er kletterte in den Wagen, beugte sich über den Passagier, berührte dessen Kopf und erkannte, dass es sich um eine plump gemachte Stoffpuppe handelte.
    In dem Moment erklang hinter ihm Eisengerassel. T. stürzte zur Tür und warf sich mit der Schulter dagegen, aber es war zu spät – jemand hatte von der anderen Seite den Riegel vorgeschoben. Dann erklang eine Stimme, die ihm bekannt vorkam:
    »Wie Sie sicher vermuten, Graf, sind Sie verhaftet. Widerstand ist zwecklos.«
    Wie um diese Worte zu bestätigen, erklang ein leises Brummen über T.s Kopf. Es ging über in ein durchdringendes, feines Jaulen, als hätte man ein elektrisches Gerät auf volle Lautstärke gedreht, und die Sense wurde ihm aus der Hand gerissen und blieb mit einem dumpfen Schlag an der ebenfalls mit Wachstuch bezogenen Wand kleben.
    Daraufhin wurde das elektrische Jaulen noch lauter und T. kam es plötzlich so vor, als ob sich tausend winzige Hände an seinen Bart klammerten, diesen in Richtung Wand zerrten und neben der Sense ausgebreitet an die Wand klatschten, wobei sein Gesicht gegen das Wachstuch gepresst und die Wange plattgedrückt wurde. Die Zugkraft war so mächtig, dass er kaum atmen konnte.
    »Grischa Ownjuk«, dachte T., »kein Zweifel. Ich erkenne die Hand des Meisters …«
    Das Fensterchen im Wagenschlag wurde aufgerissen und T. sah das Gesicht eines Mannes. Er war diesem Mann ganz sicher schon einmal begegnet, konnte sich aber zunächst nicht an ihn erinnern. Doch dann erkannte er an dem üppigen Walrossbart den Journalisten, der die Solowjow-Gesellschaft aufgefordert hatte, zur Protestkundgebung zu gehen.
    »Major der Gendarmerie Kudassow«, stellte das Gesicht sich freundlich vor. »Wir kennen uns ja

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