Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
Vom Netzwerk:
flüchtig, Graf, obwohl ich beim letzten Mal in Zivil war. Aber wir haben schon den ganzen Tag gewartet, dass Sie sich endlich bei dieser Luke einfinden. Wir sind hin- und hergefahren, immer hin und her, und die Luke war offen. Die Anwohner wollten sich schon bei der Behörde beschweren – sie fürchteten, es könnte jemand hineinfallen. Wir mussten ihnen erklären, dass wir die Behörde sind …«
    Kudassow zog an einer Papirossa und blies eine stinkende Rauchwolke in den Wagen. Dann schloss sich das Fenster und es wurde dunkel.

XXV
    Die Todeszelle im Alexei-Ravelin 82 der Peter-und-Paul-Festung war ein hoher, schmaler Raum mit dunklen Steinwänden und einer Gewölbedecke. Sie wurde von einer Talgkerze auf dem Tisch beleuchtet, die mehr Ruß als Licht abgab. Eine dünne Wand trennte die Toilettenschüssel vom Rest der Zelle; an Möbeln gab es nur einen Tisch mit einer Bank und zwei Liegen in den Ecken. Die Luft roch nach Fichtennadeln oder etwas Ähnlichem.
    T. saß auf der einen Liege, kratzte sich vorsichtig am Kinn (die Stahldrähte waren teilweise mit den Barthaaren herausgerissen worden und die Haut blutete an einigen Stellen) und dachte, das sei einer der düstersten Orte, die er je gesehen hatte.
    Das lag an den Inschriften, mit denen die Zellenwände bis oben hin bedeckt waren. Man konnte sich nur schwer vorstellen, wie die Häftlinge so hoch hinauf gelangt waren – es sei denn, sie hatten den Tisch an die Wand gerückt und die Bank hochkant daraufgehievt. Aber selbst dann hätten sie kaum bis an die Decke gereicht.
    Die Inschriften waren mit Gefängnistinte gemacht (die, wie ihm ein redseliger Aufseher erklärte, aus Schwarzbrot, Kerzenruß und Blut zubereitet wurde). Dem Sinn nach ähnelten sie sich alle mehr oder weniger – sie zeigten an, wann und wofür ein Häftling hingerichtet wurde: Name, Datum, Gesetzesparagraf und etwas in der Art von »Lebt wohl, Leute!« oder »Hab keine Angst, Häftling!«.
    Bedrückend war weniger der Inhalt als vielmehr die schiere Menge dieser Inschriften – neben dieser endlosen Aufzählung gewaltsam abgebrochener Leben erschien jede einzelne Existenz wie ein Staubkorn in den Zähnen des staatlichen Mechanismus. In jeder dieser Zeilen glomm ein winziges Teilchen des abgebrochenen Lebens, sein letzter Widerhall auf Erden. Keine Pyramide aus Totenköpfen hätte eine ähnliche Wirkung haben können.
    Unter den Inschriften stach besonders eine Zeichnung hervor, die wie eine hintergründige metaphysische Kampfansage wirkte – ein am Schwanz aufgehängter Kater mit gespreizten Pfoten und sechs sorgfältig gezeichneten tildenförmigen Schnurrbarthaaren um das zu einem lautlosen Miauen geöffnete Maul herum: Möglicherweise hatte sich hier ein Eingeweihter auf den Tod vorbereitet, gemartert von den letzten irdischen Zweifeln (neben dem Kater war die Inschrift: »Gott ist ein Menschenfresser. Evangelium nach Philipp«).
    »Dein Gebet hat nicht geholfen, Fjodor Kusmitsch«, dachte T. und flüsterte die letzten Worte des gekreuzigten Gottes, die ihm aus irgendeinem Grunde einfielen:
    »Eli, Eli, lama asabthani …« 83
    Unvermittelt antwortete eine spöttische Stimme direkt neben ihm:
    »Etliche aber, die dastanden, da sie das hörten, sprachen sie: Der ruft den Lama …« 84
    T. fuhr zusammen und hob den Blick.
    Auf der Bank beim Tisch saß ein Mann ohne Kopf.
    Er trug einen leichten sommerlichen Gehrock, aus dem eine nachlässig gebundene Krawatte hervorquoll. Der Schnitt am Hals war nicht zu sehen – er wurde von einem hohen gestärkten Kragen mit umgebogenen Ecken verdeckt. Es sprach der auf dem Tisch liegende Kopf mit einem Schopf zottiger Haare und langem Schnurrbart.
    Als Erstes dachte T., ein abgeschlagener Kopf könne nicht sprechen, weil er von dem Organ getrennt ist, das die Stimmbänder mit Luft versorgt.
    Der Kopf aber zwinkerte ihm zu und fuhr fort:
    »Nehmen Sie sich diese Schmierereien an den Wänden nicht allzu sehr zu Herzen, Graf.«
    Die Augen im Kopf funkelten fröhlich, die Stimme klang beschwichtigend und T. beschloss, das Ganze müsse ein Zaubertrick sein. Wie um T.s Vermutung zu bestätigen, nahm der kopflose Mann den Kopf vom Tisch, setzte ihn auf die Schultern, drehte ihn ein wenig hin und her, als wolle er ihn einpassen, und schon war der Kopf mit dem Körper vereinigt.
    Erst da erkannte T. Solowjow – er sah genauso aus wie auf seinen letzten Bildern.
    Solowjow nickte zur Wand hin und sagte:
    »Ich sage das deshalb, weil die Aufschriften alle nicht

Weitere Kostenlose Bücher