Tolstois Albtraum - Roman
echt sind. Da hat die Verwaltung sich Mühe gegeben.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte T.
»Das hat mir ein Bekannter erzählt, ein Gendarm. Überlegen Sie doch, welcher Todeskandidat würde seine letzten Minuten dafür verschwenden, Tinte aus Ruß und Blut zu machen, und dann über eine Bank bis zur Decke hochklettern?«
Solowjows Körper sah ganz authentisch aus, aber dennoch war er eindeutig anderer Natur als die übrigen Gegenstände in der Zelle. Es war, als befände er sich in Wirklichkeit von einer unsichtbaren Lichtquelle beleuchtet in einem anderen Raum und als würde sein Bild mithilfe eines geheimnisvollen Systems versteckter Spiegel in die dunkle, enge Zelle projiziert.
»Sie können sich gar nicht vorstellen«, sagte T., »wie froh ich bin, Sie zu treffen. Ich habe so lange versucht, Sie zu finden … Aber Ihnen ist ein Unglück zugestoßen, wie ich sehe?«
»In gewisser Weise«, erwiderte Solowjow mit einem Lächeln. »Man hat mir den Kopf abgeschlagen.«
»Wie entsetzlich …«
»Lassen Sie nur, Graf! Ab einer bestimmten Stufe unserer inneren Entwicklung spielen solche Dinge keine Rolle mehr.«
»Wer hat das getan?«, fragte T.
»Ariel. Natürlich nicht er selbst – er hat das irgendwie durch seine Phantome arrangiert. Aber wir wissen schließlich, wie sich die Dinge in dieser Welt verhalten …«
Vor Anspannung hatte T. sich aufgerichtet.
»Sie kennen Ariel?«
»Oh ja.«
»Sagen Sie, ist das, was er über die Natur und das Ziel unserer Existenz sagt, die Wahrheit?«
»Teilweise. Aber die Quäntchen Wahrheit in seinen Worten sind verstreut in einem ganzen Berg von Lügen. Und außerdem hängt die Wahrheit immer vom Betrachter ab. Für manche ist Ariel tatsächlich Gott. Aber für mich ist er eher ein böser Geist.«
»Ist er ein echter Demiurg?«
»Das ist eine Frage der Interpretation«, erwiderte Solowjow. »Von meinem Standpunkt aus nicht. Er ist eher eine Art Aufseher über die Ruderer auf einer Galeere. Ein Sklave der Umstände, den anderen Sklaven der Umstände als zusätzlicher versklavender Faktor übergeordnet …«
»Er mag Sie auch nicht besonders gut leiden«, bemerkte T.
»Kein Wunder. Ich bezweifle nicht, dass Sie in der Gesellschaft viel Schlimmes über mich gehört haben.«
»Das kam vor«, stimmte T. zu. »Soweit ich begriffen habe, gelten Sie als eine Art städtischer Irrer. Man vermeidet es, über Sie zu reden. Es läuft darauf hinaus, dass Sie in Ihrer Jugend ein vielversprechender Künstler waren, aber nach Meinung der literarischen Geldwechsler haben die in Sie gesetzten Hoffnungen keine Rendite gebracht. Außerdem war noch von Hochverrat und von der Verhaftung die Rede …«
Solowjow lächelte betrübt und breitete ratlos die Arme aus.
»Ihre Schüler hingegen«, fuhr T. fort, »ich meine die Solowjow-Gesellschaft, erzählen so erstaunliche Dinge über Sie, dass man Sie glatt mit Apollonios von Tyana oder einem anderen alten Wundertäter verwechseln könnte.«
Dieses Mal zeigt Solowjow ein leicht verlegenes Lächeln.
»Die einen halten mich für einen gefährlichen Irren«, sagte er. »Und die anderen sehen in mir das, was sie selbst nicht werden konnten. Das Letztere ist natürlich schmeichelhaft, aber genauso unverdient wie das Erstere. Und was hat Ihnen Ariel über mich gesagt?«
»Er hat irgendetwas vor sich hingenuschelt«, erwiderte T. »Mit zusammengepressten Zähnen.«
»Sie wissen doch, dass ich auch ein Teil dieser Geschichte war?«
»Ja, das hat Ariel erwähnt. Er sagte etwas von einer katholischen Soutane und zwei Brotmessern.«
»Das ist mir peinlich«, seufzte Solowjow. »Wenn ich daran denke, wie viele von diesen stummen Schnurrbartträgern aus Knopfs Behörde ich zugrunde gerichtet habe! Aber dann fingen die Schwierigkeiten an.«
»Welche?«, fragte T.
»Es ist so, dass ich Ariel durchschaut habe. Ich habe eine Sache begriffen, die sein ganzes Vorhaben durchkreuzte.«
»Und was genau?«
Solowjow kniff die Augen zusammen und musterte T. mit einem langen Blick, als schwanke er, ob er die Frage beantworten solle. Augenscheinlich entschloss er sich dafür.
»Sagen Sie, Graf, ist Ihnen je in den Sinn gekommen, dass Sie von Anfang an nie für die feierliche, erhabene Rolle erschaffen wurden, die Ariel so vage angedeutet hat, sondern genau für die Rolle, die Sie spielen? Und zwar von der allerersten Minute an?«
T. runzelte die Stirn.
»Na wenn schon, was ist das für ein Unterschied? Das Geschehen ändert sich dadurch doch nicht
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