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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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erreichte er genau das Gegenteil – ich wollte tatsächlich Schriftsteller werden und wurde dann auch einer.«
    »Aber was hat er Ihnen gesagt?«, fragte T.
    »Er erklärte, seit Urzeiten hätten die Anhänger der Kabbala – und zwar nicht dieser oberflächlichen, profanen Lehre, wie sie Madonna praktiziert, sondern der geheimen, der wirklichen Kabbala …«
    »Madonna?«, fragte T. mit hochgezogenen Brauen. »Die beschäftigt sich mit der Kabbala?«
    »Wir wollen doch nicht abschweifen, ich bitte Sie. Also, mein Großvater hat mir erklärt, die jüdischen Mystiker glaubten seit Urzeiten, unsere ganze Welt sei durch den Gedanken Gottes erschaffen worden. Das wussten übrigens schon die Griechen. Denken Sie nur daran, was Xenophon über die Gottheit gesagt hat: ›Mühelos lässt sie durch die Kraft des Geistes alles erbeben …‹ So wirkt der Schöpfer.«
    »Ich erinnere mich an das Zitat.«
    »Der Schöpfer«, fuhr Ariel mit erhobenem Zeigefinger fort, »oder die Schöpfer, ›Elohim‹, wie man Gott im Judentum nennt. Das ist der Plural von ›Eloi‹ oder ›Allah‹, wenn man die belanglosen Vokalzeichen weglässt. Wenn sie sich an die Mächte wendet, sagt die Kabbala also ›Allah‹. Es versteht sich von selbst, dass diese Wissenschaft, die in den kleinsten Kleinigkeiten so exakt ist, sich in einer so bedeutenden Sache nicht einfach verspricht. Aber sie kann auch nicht Plural durch Singular ersetzen, wenn sie nicht das eigene Kräftegleichgewicht zerstören will. Also bemüht man sich darum, diese Tatsache nicht so auffallen zu lassen. Offiziell ist Gott der Eine und Einzige, doch die geheime esoterische Strömung der Kabbala weiß sehr gut, dass es in Wahrheit viele Schöpfer gibt und wir alle von verschiedenen Wesen erschaffen werden.«
    »Verzeihen Sie«, sagte T., »ich kenne die kabbalistische Terminologie leider nicht gut und kann Ihnen nicht ganz folgen. Aber nach meiner Unterhaltung mit der Fürstin Tarakanowa kann ich mir in etwa vorstellen, worum es geht. Die Fürstin bezeichnete das als ›Vielgötterei‹, nicht wahr?«
    Ariel nickte.
    »Dann erzählte mir der Großvater von den Sieben Sephiroth und den Zweiundzwanzig Pfaden«, fuhr er fort. »Er sprach von dem verschlungenen Weg, auf dem das göttliche Licht über den Menschen kommt, über die Aspekte der Himmelskräfte, die in den zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets verkörpert sind, darüber, wie die Mächte in unserer Seele aufeinandertreffen – aber ich begriff, wie Sie sich denken werden, nur sehr wenig. Ich erinnere mich nur an einen Satz, dessen geheimnisvolle Bedeutung mich faszinierte: Der Mensch, sagte mein Großvater, ist eine Geschichte, die in einer göttlichen Sprache erzählt wird, von der die irdischen Sprachen nur ein blasser Abklatsch sind. In der göttlichen Sprache sind alle Buchstaben lebendig, jeder von ihnen ist eine Geschichte für sich, und von diesen Buchstaben gibt es zweiundzwanzig. Die Zahl ist allerdings relativ – die Chinesen glauben zum Beispiel, es gebe vierundsechzig Buchstaben, und die profanen Kabbalisten behaupten, es gebe fünfzehn.«
    »Hier ist vermutlich auch die Analogie zur Schriftstellerei?«, fragte T.
    »Ganz genau!«, lächelte Ariel. »Der Schriftsteller, der eine nicht existierende Welt mit Hilfe des Alphabets beschreibt, macht praktisch genau dasselbe wie die Schöpfer des Universums. Er schließt sich gewissermaßen in einer Kabine erster Klasse ein und fängt an, diese Dinger aufzublasen – na, Sie wissen schon … Ich fand das lustig. Aber mein Großvater war hell entsetzt. ›Arik‹, sagte er, ›begreifst du denn nicht? Einen Schriftsteller als Schöpfer zu bezeichnen ist keineswegs ein Kompliment. Selbst der stumpfsinnigste, niederträchtigste Schreiberling mit einer rabenschwarzen Seele hat die Macht, neue Wesen ins Leben zu rufen. Der Vater aller Schriftsteller ist der Teufel. Und deshalb ist das Erschaffen, ist Demiurgentum die schlimmste aller möglichen Sünden …«
    »Das verstehe ich aber nicht ganz«, sagte T. »Warum denn?«
    »Weil jeder Literat letzten Endes die Sünde des Satans wiederholt. Wenn er Buchstaben und Worte zusammenfügt, lässt er den göttlichen Geist erbeben und zwingt Gott, das zu denken, was er beschreibt. Der Teufel ist der Affe Gottes – auf diese Weise erschafft er die leidvolle physische Welt und unsere Körper. Und der Schriftsteller ist der Affe des Teufels – er erschafft den Schatten der Welt und die Schatten ihrer

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