Tolstois Albtraum - Roman
alternative Geschichte, wissen Sie, mit der man dann allmählich die echte Geschichte überdecken und ihre Verfälschungen bekämpfen könnte. Eine tolle Idee natürlich, vor allem wenn man sie richtig umsetzt. Eigentlich wollten wir zum Jubiläum fertig sein. Wir haben einen ordentlichen Kredit aufgenommen, Verträge abgeschlossen, Vorschüsse bezahlt und für Marketing, Presseunterstützung und künftige Sendezeiten im Voraus bezahlt. Sogar die Werbung war schon geplant. Und weil es eine Sache von nationaler Bedeutung ist, wurden gemäß einer Spezialanweisung Hals über Kopf die teuersten Schriftsteller des Landes angestellt. Das war, nebenbei bemerkt, völlig idiotisch, die hätte man für dieses Projekt gar nicht gebraucht.«
»Sind Sie denn der teuerste Schriftsteller?«, fragte T.
»Ich nicht, aber ich bin auch eher der Redakteur in dem Projekt. Aber Grischa Ownjuk zum Beispiel, der kostet richtig Geld, der ist so teuer wie die Jacht von Abramowitsch. Wenn der bei dem Projekt mitmacht, kaufen auch die sexuell frustrierten Single-Frauen das Buch, und das gibt allein in Moskau eine halbe Million Treffer. Mitjenka ist auch nicht billig, denn seinetwegen kaufen die Büro-Schicki-Mickis und die verkappten Schwulen das Buch. Die lieben es, wenn man auf ihnen herumtrampelt – das ist irgendwas Psychoanalytisches, habe ich mir sagen lassen. Früher hatten wir in Moskau ungefähr vierhunderttausend Bürohengste, jetzt nur noch zweihunderttausend. Aber verkappte Schwule gibt es von Jahr zu Jahr mehr. Stellen Sie sich vor, das gibt richtig Power – Grischa und Mitjenka in einem Gespann. Die Gesamtsumme ist zwar kleiner, als wenn man die einzelnen Summen addiert, weil sich die Positionen teilweise überschneiden und ein großer Teil der Büro-Schickeria gleichzeitig sexuell frustrierte Single-Frauen oder verkappte Schwule sind, aber das Gesamtresultat lässt sich trotzdem sehen. Nur mit Lew Tolstoi können nämlich selbst Mitjenka und Grischa den Kredit nicht wieder rausschlagen. Das war von Anfang an klar.«
»Und wieso haben sie dann überhaupt angefangen?«
»Weil das Barrel Öl hundertvierzig Dollar kostete. Damals gab es jede Menge überspannter Projekte. Keiner hatte ernsthaft vor, den Kredit über den Gewinn auf dem Markt zurückzuzahlen. Der Chef hatte gedacht, er könnte mit seinem eigentlichen Geschäft Kohle machen. Er hatte damit gerechnet, jetzt leichter an irgendwelche Staatsaufträge zu kommen, zum Beispiel Lehrbücher oder Broschüren zu drucken oder vielleicht auch mal einen staatlichen Bauauftrag zu ergattern, das war schließlich sein Hauptgeschäft.«
»Wer ist denn Ihr Chef?«
»Damals war es Armen Wagitowitsch Makraudow. Ein Developer. Wir hatten also gerade mit dem Projekt begonnen, als plötzlich alles den Bach hinunterging. Als die Krise kam.«
»Welche Krise?«
»Das ist es ja, es ist unbegreiflich. Dieses Mal haben sie nicht mal mehr eine Erklärung abgegeben. Früher wurde in solchen Fällen aus Respekt vor dem Publikum wenigstens ein Weltkrieg veranstaltet. Aber heutzutage geht das ohne Begleitmusik ab. Kein Angriff von Fremdlingen, kein Asteroid, der vom Himmel fällt. Nur eine Fernsehansagerin im blauen Jackett, die mit ruhiger Stimme verkündet, dass die Aussichten schlecht sind. Und kein einziger Kanal hat gewagt, dem zu widersprechen.«
»Aber die Krise muss doch einen Grund haben?«
Ariel zuckte die Schultern.
»Es wird so allerlei geschrieben«, erwiderte er, »aber wer glaubt das schon? Vor der Krise wurde allerhand gescheites Zeug geschrieben, es werde keine Krisen mehr geben. Ich persönlich glaube, das war das Werk der Weltregierung. Sie druckt Geld, und in der Krise fallen die Preise. Und wenn die Preise fallen, druckt sie viel Geld und kauft uns alle.«
»Aber inwiefern hat das mit dem Grafen Tolstoi zu tun?«
»Ganz direkt. Damals lebten schließlich alle vom Öl, sogar die Tauben auf der Straße. Als der Ölpreis fiel, war kein Geld mehr da. Die Leute versuchten an allen Ecken und Enden, ihre Schulden einzutreiben. Unser Armen Wagitowitsch war als Developer besonders schlimm dran. Die tschetschenische Kohle in seinen eingefrorenen Projekten saß fest. Also sollte die Frage auf der Ebene der Kryscha 25 gelöst werden. Aber heutzutage sind alle unter demselben Dach, nur an verschiedenen Ecken. Die Tschetschenen stehen unter dem Schutz der Hardliner und Armen Wagitowitsch unter dem der Liberalen.«
»Und worin unterscheiden die sich?«
»Das sieht man schon am
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