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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Laderaum.
    Die Mönche vermieden es, T. in die Augen zu sehen – sie gingen mit zu Boden gesenktem Blick, als würden sie einen See nach kleinen Fischen durchkämmen.
    T. wandte sich verächtlich ab und steckte die Hände in die Taschen.
    Er hatte richtig kalkuliert: Hätte er einfach nur die Hände in die Tasche gesteckt, hätte Pereswet höchstwahrscheinlich geschossen. Da er jedoch den Mördern seinen ungeschützten Rücken zuwandte, fühlte der Mönch sich nicht bedroht.
    »Graf!«, rief Warsonofi. »Was machen Sie denn da? Wie Popen und Fotografen immer sagen – gleich kommt das Vögelchen, ha-ha! Verpassen Sie es nicht!«
    Ohne Warsonofis Alberei zu beachten, umfasste T. mit der Hand den kalten Konus der Bombe und überblickte das Schlachtfeld, als versuchte er angestrengt, sich an etwas Wichtiges zu erinnern.
    Knopf lag auf dem Rücken und blickte mit offenen Augen in den abendlichen Himmel. Unweit von ihm schimmerte dunkel der Leichnam des Pferdes mit ölig glänzenden Löchern im Bauch. Die beiden Detektive mit ihren blutgetränkten Jacketts lagen in dem vom Schrot niedergemähten Gebüsch am Rand der Straße. Irgendwo in der Ferne erhob der blinde Zigeuner wieder sein entsetzliches Geheul.
    T. hob das Gesicht zum Himmel. Direkt über ihm war ein schmaler Lichtschimmer in den Wolken.
    Mit dem Daumen zerdrückte T. die Zündkapsel und drehte sich zu den Mönchen um. Pereswets Augen verengten sich – er bewegte den Gewehrlauf, aber noch ehe er auf den Abzug drückte, schleuderte T. die Bombe in die Luft und warf sich mit dem ganzen Körper zurück.
    Der Schuss und die Explosion verschmolzen zu einem einzigen Knall, als T. schon am Boden lag. Er sah die Flamme nicht. Er hatte keine Schmerzen, aber ihm schwand das Licht vor Augen. Ihm war, als fiele er in eine Grube, deren Grund Hitze ausströmte. Das Merkwürdige war, dass sie zu Anfang nicht tief erschien, doch je länger er fiel, desto weiter wich der Grund zurück. Kein Abgrund konnte so tief sein.
    Dann blies ihm ein Wind entgegen. Er wurde allmählich immer stärker, und bald verlangsamte sich T.s Fall, bis er schließlich ganz zum Stillstand kam.

XII
    Die Realität bestand aus zwei einander entgegengesetzten Kräften.
    Die eine war der Wind, gleichmäßig und beständig. Er suchte, T. zu ergreifen und aufwärts davonzutragen. In ihm war Kühle und er gab Hoffnung.
    Die andere Kraft war die Schwere, eine Art erschöpfter Einklang von etwas Gewaltigem, Uraltem mit sich selbst. Sie war heiß und zermürbend und zog T. nach unten.
    An dem Punkt, wo T. war, wogen die beiden Kräfte sich mit Apotheker-Genauigkeit gegenseitig auf.
    Zu Anfang war das Bewusstwerden dieser eigenartigen Polarität der einzige Gedanke. Dann wurde dieser Gedanke von anderen überlagert. Es wurden mehr und mehr Gedanken, die bald nicht mehr wahrnehmbar waren – vielmehr verschwand das, was sie wahrnahm, in ihrem Strom und war selbst nicht mehr wahrnehmbar.
    »Das ist natürlich kein physischer Wind, keine physische Schwere, weil ich keinen Körper habe. Eigentlich habe ich überhaupt keine Hülle mehr. Nicht einmal mehr einen Namen, den feinsten Körper, den es gibt. Die Namen, die ich trug, sind nicht die meinen, das liegt nun auf der Hand. In mir ist überhaupt nichts, das man mit einem Namen belegen könnte. Aber wer denkt jetzt daran?«
    Keine Antwort.
    »Der Wind und die Schwere sind unbestreitbar real, weil ich sie spüre. Also sind diese Kräfte an etwas gebunden. Angenommen, das bin ich, Graf T. … Das wäre irgendwie logisch. Aber woher kommen dieser Wind und diese Schwere? Kann ich ihren Ursprung sehen?«
    Der Ursprung war eine sich verdichtende Finsternis vor ihm. Doch war dort nicht nur Finsternis.
    Je länger T. hineinstarrte, desto mehr Details konnte er unterscheiden. Anfangs erkannte er nur eine Kugel intensiver Schwärze vor einem ebenso dunklen Hintergrund. Mit der Zeit schien in der Schwärze etwas Weißliches hervorzutreten, und darin hoben sich rosa-gelbliche Punkte ab, die sich allmählich zu den Zügen eines riesigen menschlichen Gesichts verdichteten. Die Augen tauchten auf, dann die Nase, der Mund – und T. begriff, dass er Ariel sah.
    Sein Gesicht sah freilich ungewohnt aus. Das rechte Auge war nur noch ein schmaler Schlitz (T. überlegte, dass das von einem Gerstenkorn kommen könnte). Die Nase war leicht angeschwollen (vielleicht ein Schnupfen, dachte T.). Die hässlich angeschwollene Unterlippe jedoch trug deutliche, schmähliche Spuren von Gewalt,

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