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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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die man auf gar keinen Fall mehr mit natürlichen Ursachen erklären konnte: Eine dunkle, gestrichelte Linie getrockneter Wunden war zu erkennen, zweifellos die Spuren seiner Zähne von dem Zusammenstoß mit einem festen, sich schnell bewegenden Gegenstand, etwa einer Faust.
    Im Folgenden kam es zu einer Art Kettenreaktion in T.s Wahrnehmung – sobald klar war, dass Ariels Gesicht die Spuren eines Kampfes trug, verlor es die mystische Erhabenheit eines kosmischen Objekts und selbst die Schwärze verlor an Intensität und verblasste; in wenigen Augenblicken verdichtete sich die Erscheinung, und sämtliche kleinen Details bis hin zu den Poren in der ungesunden Haut waren deutlich zu unterscheiden. Ariels Augen richteten sich auf ihn und T. erkannte, dass der Demiurg ihn ebenfalls sah.
    Eine Zeit lang blickten sie einander schweigend an.
    »Was ist passiert?«, fragte T.
    Ohne recht zu begreifen, wie, brachte er die Frage mit gewohnter Mühelosigkeit heraus.
    »Mit mir?« Ariel lächelte böse. »Oder mit Ihnen?«
    »Mit Ihnen«, sagte T. höflich. »Ich sehe, Ihnen ist ein Missgeschick zugestoßen.«
    Ariel blinzelte, und seine Augen glitzerten feucht. T. war neugierig, ob die Tränen des Demiurgen sich von den Wimpern lösen und in den Raum hinausfliegen oder die Wangen hinunterrollen würden. Doch Ariel hatte sich bereits wieder in der Gewalt und seine geschwollenen Lippen öffneten sich zu einem schmerzverzerrten Lächeln.
    »Pantelejmon will nicht zahlen, er hat abgesagt«, erklärte er.
    »Das habe ich mir schon gedacht«, erwiderte T.
    »Und zwar in einer für einen Südländer äußerst beleidigenden Form. Ich habe Ihnen ja gesagt, unser Krisenmanager Süleyman ist trotz seiner Londoner Politur ein Südländer geblieben, und für die ist das zweite Signalsystem eine relativ neue Installation, die häufig zu unkontrollierbaren Emotionen führt.«
    »Das zweite Signalsystem?«, fragte T. »Was ist denn das?«
    »Ein System der bedingten Reflexe, die an bestimmte Wörter gekoppelt sind. Im Unterschied zum ersten Signalsystem, das mit den Reaktionen des Organismus auf Hitze, Kälte und so weiter verbunden ist. Welche Assoziationen haben Sie bei dem Wort ›Ziegenbockhahn‹?«
    »Dabei muss ich irgendwie an ein Priesterseminar denken«, antwortete T. »Anhand solcher Beispiele erklären sie einem im Seminar die Eitelkeit des menschlichen Verstandes. Dass der Mensch selbst mit seinem Verstand nichts Neues schaffen, sondern lediglich die Elemente dessen, was der Herr geschaffen hat, verbinden kann. Ein klassisches Beispiel ist der Flügelstier. Der Ziegenbockhahn scheint mir auch von diesem Kaliber zu sein.«
    »Logisch«, sagte Ariel. »Pantelejmon ist Archimandrit, also haben Sie eine Assoziation vom Priesterseminar. Aber die Kanaken haben bei diesem Ausdruck ganz andere Assoziationen. 36 Süleyman jedenfalls vergaß auf der Stelle seine sämtlichen europäischen Attitüden und gab das Kommando, das Geschäft des Archimandriten und der Kirche mal so richtig aufzumischen. Oder wie er sich ausdrückte: ›es ihnen auf fundamentalster Ebene zu besorgen‹. Er hat wie versprochen seinen tschetschenischen Intellektuellen geschickt – ein ganz gerissener Typ. Wir haben einen Abend lang zusammengesessen und überlegt, wo ihre fundamentalste Ebene ist, und dann haben wir uns bekreuzigt und angefangen …«
    »Hm«, bemerkte T., »das habe ich gesehen.«
    »Die Sache mit dem Hermaphroditen gefällt mir nicht besonders, das hat der Tschetschene eingebaut. Dafür haben wir uns aber etwas einfallen lassen, wogegen Dan Brown ganz schön alt aussieht. In unserer Version ist der Heilige Gral die Mumie von Jesus Christus, die in einer Synagoge beim Vatikan mit vermoderten Binden ans Kreuz gewickelt ist. Mit Hilfe des Grals lenken die Freimaurer der Weltregierung den Gang der Geschichte. Sie hassen übrigens die Moslems, weil die darauf nicht reinfallen. Aufhören wollten wir damit, dass die Pflichtreligion der modernen weißen Menschheit der Kult der toten Juden ist, dessen verschiedene Ableger sowohl die dumpfe Volksmasse erfassen als auch die freiheitsliebende liberale Öffentlichkeit. Der Tschetschene hat sich sogar schon den letzten Satz ausgedacht – ›Dessen bedürfen nicht die Toten, sondern die Lebendigen‹. 37 «
    »Was Sie da reden«, sagte T. »Wirklich, da wird es einem angst und bange.«
    »Keine Sorge«, grinste Ariel. »Es ist ja nicht so weit gekommen.«
    »Und was ist passiert?«
    »Süleyman hat ein paar

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