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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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kann man nicht einmal als Persönlichkeit im vollen Sinne dieses Wortes bezeichnen. Ein Etikett, auf dem ›T.‹ steht und hinter dem sich immer wieder andere Gauner verbergen – je nach den Forderungen Ihrer Marketender. Sie haben die Freiheit des Willens, ich nicht.«
    »Die Freiheit des Willens?«, schmunzelte Ariel. »Ach, hören Sie doch auf. Das ist genauso ein beschränktes kirchliches Dogma wie das, dass die Sonne das Zentrum des Universums sein soll. Niemand hat die Freiheit des Willens, das hat die Wissenschaft längst still und heimlich bewiesen.«
    »Wie denn das?«
    »Folgendes: Glauben Sie etwa, ein echter Mensch – ich zum Beispiel oder Mitjenka – hätte eine Persönlichkeit, die die Entscheidungen trifft? Das hat man im letzten Jahrhundert geglaubt. In Wirklichkeit werden die menschlichen Entscheidungen in dunklen Ecken des Gehirns getroffen, in die keine Wissenschaft Einblick nehmen kann, und zwar mechanisch und unbewusst, wie bei einem Industrieroboter, der Abstände ausmisst und Löcher stanzt. Und das, was man ›die menschliche Persönlichkeit‹ nennt, drückt diesen Entscheidungen – und zwar ausnahmslos allen – lediglich einen Stempel mit dem Wort ›Genehmigt!‹ auf.«
    »Das verstehe ich nicht ganz«, sagte T.
    »Schauen Sie«, erwiderte Ariel. »Angenommen, eine dicke Frau beschließt, nie wieder Süßigkeiten zu essen, und verschlingt eine Stunde später eine Schachtel Schokolade – dann hat sie beides selbst beschlossen! Sie hat es sich zwischendurch einfach anders überlegt. Sie hat die Freiheit des Willens umgesetzt. In Wirklichkeit aber haben irgendwelche Relais Klick gemacht, ein anderes Unterprogramm kommt zum Zug, und fertig. Und Ihre ›Persönlichkeit‹ hat alles genehmigt, wie der japanische Kaiser, denn würde sie das, was geschieht, auch nur einmal nicht genehmigen, dann würde sich herausstellen, dass sie überhaupt nichts entscheidet. Deshalb hört bei uns das halbe Land morgens auf zu trinken und mittags steht es für Bier an – und keiner plagt sich mit Persönlichkeitsspaltung, es haben einfach alle ein reiches Innenleben. Das ist die ganze Freiheit des Willens. Wollen Sie etwa besser sein als Ihre Schöpfer?«
    »Was soll ich mit Ihnen streiten«, versetzte T. leise. »Ich bin doch nur eine Puppe. Wie dieser schwarze Bajazzo bei den Zigeunern, mit dem ich mich unterhalten habe … Im Grunde widersprechen Sie nicht einmal. Sie sagen einfach, Sie sind auch eine Puppe.«
    »Richtig«, sagte Ariel. »Aber das ist kein Grund zur Verzweiflung. Wir sind nur Marionetten und unsere Handlungen lassen sich sämtlich auf bloße Mechanik zurückführen. Doch niemand ist imstande, diese Mechanik vollständig zu berechnen, so kompliziert und verwickelt ist sie. Auch wenn jeder von uns im Grunde genommen eine mechanische Puppe ist, so weiß doch keiner, was die im nächsten Moment anstellt.«
    »Na sehen Sie«, sagte T. »Sie können wenigstens noch etwas anstellen.«
    »Ja, du liebe Güte, glauben Sie vielleicht, dass ich mir das selbst ausdenke?«
    »Wer denn sonst?«
    »Überlegen Sie doch mal. Wenn Sie zum Beispiel Axinja wollen – kann man da vielleicht sagen, dass das Ihre eigene Laune ist? Da hat einfach Mitjenka das Ruder übernommen. Und wenn ich auf die Idee komme, für zwanzig Prozent Jahreszins einen Kredit aufzunehmen und davon einen Mazda acht zu kaufen, um dann in einem stinkenden Stau zu stehen und eine Reklametafel für den Mazda neun anzustarren – ist das etwa meine Idee?« Ariel betonte das Wort »meine« ganz besonders. »Der Unterschied ist lediglich, dass Sie nur von Mitjenka beherrscht werden und ich von zehn Gaunern aus drei verschiedenen Gehirnwäschebüros gleichzeitig. Dabei sind sie keine Bösewichte, sondern auch nur mechanische Puppen, und jeder Einzelne von ihnen wird von seiner Umgebung tagtäglich mit derselben grausamen Gleichgültigkeit ausgenutzt.«
    »Aber warum tun Menschen einander so etwas an?«
    Ariel hob warnend den Finger und schaltete die Flamme unter dem Rührei aus.
    »Es scheint nur, als ob die Menschen das tun«, sagte er. »In Wirklichkeit aber findet man selbst mit der hellsten Lampe in keinem dieser Menschen den realen Täter. Ich habe Ihnen ja schon erklärt, Sie finden da nur hormonelle Relais, die im Dunkel des Unterbewusstseins klicken, und einen Bürostempel, der sein ›Genehmigt!‹ auf alles klatscht, was man ihm vorlegt.«
    »Das ist aber sehr vereinfacht«, sagte T. »Es gibt doch noch mehr im Menschen.«
    Ariel

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