Tolstois Albtraum - Roman
was dafür.«
»Wohin soll ich Sie bringen, Herr?«
»Nach Petersburg. Und zwar schnell, Brüderchen, schnell.«
Nach kurzem Überlegen nickte der Bauer. T. kletterte auf das Fuhrwerk und bedeckte sich mit einer zerknüllten Pferdedecke, die auf dem Heu lag.
Nachdem sie einige Minuten gefahren waren und T. schon einschlafen wollte, fragte der Bauer:
»Und wohin in Petersburg, Herr? Die Stadt ist groß.«
»Zu Dostojewski«, erwiderte T. entschlossen.
»Zu Dostojewski?«, wunderte sich der Bauer. »Sie belieben zu scherzen, Herr. Dostojewski ist doch schon viele Jahre tot.«
»Du lügst …«
»Ich schwöre es, Herr.«
»Dann in ein Hotel. In das beste Hotel auf dem Newski.«
»Wie Sie wünschen.«
»Irgendwie ist das ein allzu beflissener und höflicher Bauer«, überlegte T. beim Einschlafen. »Als wäre er die letzten zehn Jahre jeden Tag über die Landstraße gefahren in der Hoffnung, einen Herrn aufzulesen, der gerade eben den Styx überquert hat. Bestimmt ein Tolstoianer … Aber der russische Mensch trägt immer ein Geheimnis mit sich, warum also sollte es nicht genau so einen Bauern geben? Man müsste natürlich an der Figur noch etwas arbeiten. Überlegen, wie er aufgewachsen ist, wie die großen Ereignisse unseres Vaterlandes seine Seele beeinflusst haben … Oder ich gebe ihm besser einfach ein Goldstück, und zum Teufel mit ihm, wahrhaftig.«
ZWEITER TEIL
Der Schlag des Imperators
XVI
Ariel stand an einem großen weißen Unterschrank mit schwarzen Griffen und briet sich ein Rührei in einer Pfanne, unter der ein Kollier aus munteren blauen Flämmchen brannte. Er trug lilafarbene Unterwäsche und abgeschabte Lederschlappen.
T. stand hinter ihm. Er wusste nicht, wo er war, aber er begriff, dass er nicht hier sein dürfte und Ariel sich über den ungebetenen Besuch ärgerte. Unter diesen Umständen bestand wenig Aussicht, den Demiurgen empfindlich zu treffen, aber T. hatte keine Wahl, daher sprach er leidenschaftlich und aufrichtig, ohne seine Worte sorgfältig zu wählen:
»Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, was für eine Qual das ist – immer zu wissen, dass man nur zu einem einzigen Zweck lebt, leidet und sich plagt – damit eine finstere Nissenbrut damit Geld verdienen kann? Ein denkendes Wesen zu sein, alles zu verstehen, alles zu sehen – und das nur, damit ein Wesen wie Sie Geld scheffeln kann …«
»So, meinen Sie?« Ariel wiegte den Kopf, ohne sich umzudrehen. »Vielen Dank.«
Eine Zeit lang herrschte Stille, nur unterbrochen vom Zischen des Fetts in der Pfanne. Dann murmelte T.:
»Entschuldigen Sie, das ist mir so rausgerutscht. Ich hätte das nicht sagen sollen.«
Ariel nickte versöhnlich.
»Natürlich nicht«, sagte er. »Aber wenigstens kennen Sie die Wahrheit über sich. Die anderen hingegen haben überhaupt keine Ahnung. Sie springen von Brücken, galoppieren auf Pferden herum, sie decken Verbrechen auf oder knacken Safes, sie geben sich schönen Unbekannten hin, stürzen Könige vom Thron oder kämpfen mit Gut und Böse – und das alles ohne den kleinsten Schimmer von Bewusstsein. Man sagt, bei Dostojewski gäbe es Charaktere und differenzierte Figuren. Aber was zum Teufel sind das für Charaktere? Wie kann denn eine Figur psychologische Tiefe haben, die nicht einmal auf die Idee kommt, dass sie der Held eines Kriminalromans ist? Wenn dieser Held nicht einmal eine so einfache Tatsache über sich selbst erkennt, wer interessiert sich dann für seine Gedanken über Moral, Sittlichkeit, das göttliche Gericht und die Geschichte der Menschheit?«
»Wenigstens leidet er nicht, wie ich.«
»Einverstanden, Graf«, sagte Ariel. »Ihre Lage ist ambivalent und tragisch – aber Sie erkennen sie! Sie erkennen sie, weil ich Ihnen die Gelegenheit dazu gab. Die anderen haben diese Gelegenheit nicht. Denken Sie nur an Knopf. Ein höchst rechtschaffener Mensch. Aber er hat nichts begriffen, obwohl Sie ihm einen halben Tag lang alles erklärt haben. Er tut mir heute noch leid.«
»Es ist ausweglos«, flüsterte T. vor sich hin.
»Meinen Sie vielleicht, mir geht es besser?«, lächelte Ariel. »Ich sage es Ihnen doch immer wieder – ich unterscheide mich keinen Deut von Ihnen. Nur dass Sie ein interessantes Leben haben und ich nicht.«
»Irgendwie scheint mir«, versetzte T., »dass Sie nicht aufrichtig sind, wenn Sie das behaupten. Sie sind ein freier Mensch, wenn Sie genug haben von alldem, können Sie ein Schiff besteigen und nach Konstantinopel fahren. Aber mich
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