Tolstois Albtraum - Roman
Zombie-Gardisten ist es nicht schade. Aber die jungen Toten … Die tun mir manchmal leid – sie sind doch noch richtige Kinder. Vielleicht hätte man ihnen helfen können? Was meinen Sie, Graf?«
»Eine schwierige Frage«, erwiderte T., der erkannte, dass dieses Problem Dostojewski seit langem quälte. »Faktisch ist es schwer zu helfen, weil sie, soweit ich Ariels Plan verstehe, ausschließlich dafür geschaffen wurden, um sie erschießen und ihnen Wodka und Wurst wegnehmen zu können. Andererseits sind Sie und ich keinen Deut besser. Wir sind auch nur Gladiatoren in diesem widerlichen Zirkus.«
»Das ist Philosophie«, seufzte Dostojewski. »Die Realität aber ist, dass ich eine tote Seele habe und Sie eine lebende. Manchmal denke ich, vielleicht habe ich zu viele junge Leute umgebracht«.
»Der Kern des Problems liegt woanders.«
»Und wo?«
»Dass Sie an lebende und tote Seelen glauben. Sie akzeptieren die Konventionen der Welt mit erstaunlicher Leichtgläubigkeit, Fjodor Michailowitsch. Dabei wurden sie sämtlich ohne Ausnahme eingeführt um jemandes kleinlichen Eigennutzes willen.«
»Und Sie akzeptieren die Konventionen nicht?«
»Ich wurde hinausgeworfen und befand mich außerhalb ihrer Grenzen. Um zu überleben, musste ich mir selbst die Welt neu zusammensetzen … Deshalb hatte ich die Wahl, was ich übernehmen wollte und was nicht. Ist es noch weit?«
»Wir sind da«, sagte Dostojewski.
Er deutete auf ein paar Steigbügel, die aus der Wand ragten und nach oben liefen, einen dunklen Brunnenschacht hinauf. Sie sahen solide aus, waren sogar stellenweise vernickelt.
»Die Goldmeile«, erläuterte Dostojewski. »Die Kanalisationsluken befinden sich direkt bei den Hauseingängen. Das ist sehr günstig, zur Fortbewegung und überhaupt. Die Zombies kommen nur selten hierher. Aber trotzdem sollte man sich nicht zu lange auf der Straße aufhalten.«
T. kletterte aus der Luke heraus und stand vor einem grauen Mietshaus an der Kreuzung zweier verlassener Straßen.
»Im fünften Stock«, flüsterte Dostojewski mit einem Blick nach oben. »An der Ecke, wo die roten Vorhänge sind. Er ist anscheinend zu Hause, das Licht brennt …«
Im Eingang roch es nach Feuchtigkeit, nach Katzen und nach alten Zeitungen.
Gegenüber der Eingangstür lag die dunkle, mit Eisenplatten verbarrikadierte Pförtnerloge, aus deren kleiner Fensteröffnung die Mündung einer Doppelflinte ragte. Der Pförtner selbst zeigte sich nicht, aber der Lauf zuckte kurz in Richtung der Treppe – das sollte offenbar heißen, dass sie passieren durften. Dostojewski nickte zur Loge hin, packte T. am Ellbogen und zerrte ihn die Treppe hinauf.
Im fünften Stock blieb er vor einer hohen, braunen Tür stehen und drehte energisch an der goldenen Klingel. Ein leiser Glockenklang ertönte. Eine oder zwei Minuten blieb alles still. Dostojewski vermied es, T. anzusehen; seine Lippen bewegten sich kaum merklich, als würde er lautlos mit jemandem reden.
»Er betet«, erkannte T.
Endlich wurde die Tür geöffnet.
Im Türrahmen stand ein hagerer Herr mit Drahtbrille und einem altmodischen Gehrock; sein sorgfältig rasiertes, aber welkes Gesicht war von jener ungesunden Farbe, die die Haut annimmt, wenn sie monatelang keine Sonne sieht. Aus dem Korridor hinter ihm drangen die leisen Klänge eines Phonographen.
Der Herr verbeugte sich und bat die Gäste hinein.
»Guten Tag, Fjodor Michailowitsch«, sagte er im Flur mit leichtem Schalk. »Wen haben Sie denn da Elegantes mitgebracht?«
»Gestatten Sie, dass ich Ihnen Graf T. vorstelle«, sagte Dostojewski.
Pobedonoszew erstarrte für einen Sekundenbruchteil, wie von einem Magnesiumblitz gebannt, fing sich aber sofort wieder, lächelte aufs Herzlichste und schlug die Hände zusammen.
»Ach, Sie sind das! Jetzt sehe ich es, ja. Es tut mir leid, Graf, dass ich mich so blamiert habe! Aber in diesem Aufzug, noch dazu mit diesem … ehem … Bartschnitt sind Sie einfach nicht zu erkennen. Aber wie symbolträchtig, dass Sie ausgerechnet mit Dostojewski kommen! Endlich …«
»Oberprokurator Pobedonoszew«, sagte Dostojewski und stellte damit den Hausherrn gleichsam formell vor. »Die geistige Leuchte unserer Zeit.«
»Ich freue mich außerordentlich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte T.
»Gerade kürzlich erst«, sagte Pobedonoszew immer noch lächelnd, »habe ich das Buch Ihrer Axinja Michailowna durchgeblättert.«
»Welches Buch?«, fragte T. verblüfft.
»Sie hat doch nur zwei Bücher
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