Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition)
im stande zu sein, ihr herauszuhelfen und dabei sich bewußt sein, daß man sie selbst in diese Umstände versetzt hat, ist vielleicht ein solcher Zustand der Verdammnis, dessen Qualen sich keine Einbildung vorstellen kann, wenn man sie nicht selbst erfahren hat.« – »Das glaub' ich Ihnen von ganzer Seele,« rief Jones, »und ich bedaure Sie im Grunde meines Herzens.« Der alte Mann ging hier zwei- oder dreimal im Zimmer auf und nieder, bat darauf um Verzeihung, warf sich in seinen Lehnstuhl und rief aus: »Ich danke dem Himmel, daß auch das überstanden ist.«
»Dieser Umstand,« fuhr der alte Herr fort, »vergrößerte den Jammer meiner gegenwärtigen Lage so sehr, daß er mir völlig unerträglich wurde. Ich konnte mit weniger Schmerzen das Nagen meiner eignen natürlichen unbefriedigten Bedürfnisse, selbst Hunger und Durst ertragen, als es ausstehen, die sonderbarsten Gelüsten und Begierden eines Frauenzimmers ungesättigt zu lassen, in welche ich so äußerst verliebt war, daß, ob ich gleich wußte, daß sie mit der Hälfte meiner Bekannten den genausten Umgang gepflogen, ich dennoch des festen Vorsatzes war, sie zu heiraten. Aber das gutherzige Geschöpf konnt' es gleichwohl nicht übers Herz bringen, in eine Handlung zu willigen, welche die Welt so sehr zu meinem Nachteile erklären möchte. Und da sie vielleicht mit dem täglichen Kummer, welchen sie mich ihrentwegen leiden sah, Mitleid hatte, so entschloß sie sich, meiner Not ein Ende zu machen. Sie fand wirklich bald Mittel und Wege, mich aus meiner unruhigen und höchst verwickelten Lage herauszureißen; denn derweil ich mir mit allerlei Erfindungen fast den Kopf zerbrach, wie ich ihr Vergnügungen verschaffen wollte, war sie so höchst gütig – mich an einen ihrer vorigen Liebhaber von Oxford – zu verraten, durch dessen Fleiß und Sorge ich unmittelbar drauf ergriffen und ins Gefängnis gesetzt wurde.
Hier fing ich erst an, ernsthaft nachzudenken über die Mißhandlungen meines vorigen Lebens, über die Irrtümer, die ich mir hatte zu schulden kommen lassen, über das Unglück, welches ich mir [115] zugezogen hatte, und über den Gram, in den ich den besten von allen Vätern versenkt haben mußte. Wenn ich zu allem diesem die schändliche Untreue meiner Geliebten noch hinzudachte, so wurden die Qualen meines Gemüts so groß, daß das Leben, anstatt mir länger wünschenswert zu bleiben, ein Gegenstand meines grauenvollen Abscheus wurde; und ich hätte mit Freuden den Tod als meinen teuersten Freund umarmen können, hätt' er sich nur meiner Wahl ohne Schimpf und Schande dargestellt. Die Zeit der vierteljährigen Gerichte kam herbei und ich ward nach den Landesgesetzen nach Oxford, dem Orte, wo ich das Verbrechen begangen hatte, ausgeliefert, woselbst ich gewiß erwartete, überführt und verurteilt zu werden. Zu meiner großen Verwunderung aber ward ich nicht zum Verhör gebracht und, nachdem die Dingzeit zu Ende gegangen, ward ich, weil sich kein Ankläger gegen mich stellte, wieder auf freien Fuß gesetzt. Kurz, mein Stubenbursche hatte Oxford verlassen und, war es aus Gleichgültigkeit oder aus andern Ursachen, das weiß ich nicht; aber er hatte nicht für gut befunden, sich weiter mit der Sache zu befassen.«
»Vielleicht,« rief Rebhuhn, »wollt' er nicht gern Ihr Blut auf seiner Seele haben, und daran that er auch ganz recht. Denn wenn jemals ein Mensch auf meine Anklage aufgehängt würde, in meinem Leben könnt' ich hernach kein Auge wieder zuthun vor Angst, daß er immer um mich spuken gehen würde.«
»Nachgerate wird mir's zweifelhaft, Rebhuhn,« sagte Jones, »ob Er mehr Tapferkeit oder mehr Weisheit besitzt.« – »Wenn Sie mich auslachen wollen, Herr, meinetwegen!« antwortete Rebhuhn. »Wenn Sie aber nur eine kurze Historie anhören wollten, die ich erzählen kann und die so wahr ist, daß nichts darüber geht, so können Sie vielleicht ganz andrer Meinung werden. In dem Kirchspiele, worin ich geboren bin –« Hier hätt' ihn Jones gern zum Schweigen gebracht, aber der Fremde legte eine Fürbitte ein, daß er seine Historie erzählen dürfte, und versprach zugleich, daß er das übrige der seinigen nicht vergessen wolle.
Rebhuhn hub also folgendermaßen an: »In dem Kirchspiele, worin ich geboren bin, wohnte ein Pächter, der hieß Zaum und der hatte einen Sohn namens Franz, einen guten, hoffnungsvollen Menschen. Ich ging mit ihm in die lateinische Schule und erinnere mich, wie er in Ovids Episteln kam, woraus er
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