Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition)
jemand, dessen Neigungen und Gedanken an der Welt hängen, nicht begreifen kann, womit ich an diesem Orte mich in so viel müßigen Stunden beschäftigt habe. Es gibt aber ein einziges Geschäft, für welches das ganze Leben eines Menschen unendlich zu kurz ist. Welche Zeit könnte wohl hinreichen für die Betrachtung und Verehrung des erhabensten, unsterblichen und ewigen Wesens, unter dessen Werken in seiner unermeßlichen Schöpfung nicht nur dieser Erdball, sondern selbst jene unzähligen strahlenden Lichtkörper, womit wir den weit ausgedehnten Himmel besät sehen, obgleich die meisten von ihnen Sonnen sein mögen, welche ebensoviele Weltsysteme erleuchten und erwärmen, dennoch vielleicht mit dem Ganzen verglichen nichts mehr sein dürften als etwa einige Atome, verglichen mit der ganzen Erde, welche wir bewohnen? Kann ein Mensch, welcher durch göttliche Betrachtung gleichsam zum vertrauten Umgange dieser allumfassenden, unbegreiflichen Majestät zugelassen wird, Tage oder Jahre oder Jahrhunderte für die Dauer einer so entzückenden Ehre für zu lang halten? Sollten die leeren Zeitvertreibe, die übersättigenden Vergnügungen, die ermüdenden Geschäfte der Welt uns unsre Stunden zu schnell entrücken, und soll der Gang der Zeit einem Geiste gelähmt scheinen, der in so hohen, so wichtigen und so seligen Betrachtungen geübt ist? So wie keine Zeit hinreicht, so ist auch kein Ort unschicklich für diese erhabene Beschäftigung. Auf welchen Gegenstand könnten wir wohl unsre Augen werfen, der nicht geschickt wäre, uns mit Gedanken an seine Macht, an seine Weisheit und an seine ewige Liebe zu erfüllen? Es bedarf's nicht, daß die aufgehende Sonne ihre blendenden Strahlen über den östlichen Horizont verbreite, noch daß die tobenden Winde aus ihren Höhlen hervorstürmen, um die Bäume des hohen Waldes zu beugen, noch daß die regenschwangern Wolken zerreißen, um Ebenen und Thäler zu überschwemmen; es bedarf's nicht, sag' ich, daß diese größeren Naturerscheinungen die Herrlichkeit seiner Majestät verkündigen, kein Gewürm, kein Hälmchen Gras, so niedrig und unbemerkt es in der Schöpfung sei, das nicht mit Mal und Zeichen seines großen Schöpfers beehrt wäre, nicht nur mit Mal und Zeichen seiner Macht, sondern auch seiner Weisheit und ewigen Güte. Nur der Mensch, der König dieses Erdballs, das letzte und größte Werk [142] des allerschaffenden Wesens unter der Sonne, nur der Mensch hat niedrigerweise seine eigne Natur entehrt, und durch Falschheit, Grausamkeit, Undank und Verräterei die Güte seines Schöpfers zweifelhaft gemacht, indem durch ihn es fast zu einem Rätsel geworden, wie ein so allwohlthuendes Wesen ein so thörichtes, verworfenes Tier habe erschaffen können. Und doch ist dies das Geschöpf, von dessen Umgang ich, wenn ich Ihre Meinung recht verstehe, unglücklicherweise soll getrennt worden sein, und ohne dessen beseligende Gesellschaft nach Ihren Gedanken das Leben langweilig und freudenleer sein soll.«
»Ich bin mit dem ersten Teile von dem, was Sie gesagt haben,« erwiderte Jones, »völlig und von Herzen einverstanden. Ich glaube aber sowohl als ich's hoffe, daß der Abscheu, welchen Sie am Schlusse gegen das menschliche Geschlecht äußern, viel zu allgemein sei. Wirklich, Sie fallen hier in einen Irrtum, welcher, wie ich bei meiner wenigen Erfahrung bemerkt habe, sehr gewöhnlich ist, daß Sie den Charakter der Menschheit nach den schlechtesten und schlimmsten einzelnen Menschen zeichnen, da doch, nach der Bemerkung eines vortrefflichen Schriftstellers, eigentlich von einer ganzen Gattung nichts für charakteristisch gehalten werden sollte, als man an den besten und vollkommensten Individuen dieser Gattung findet. Dieser Irrtum, glaub' ich, wird gewöhnlich von denjenigen begangen, welche aus Mangel an gehöriger Vorsicht in der Wahl ihrer Freunde und Bekannten von schlechten und unwürdigen Menschen betrogen und hintergangen worden sind, und zwei oder drei solcher Beispiele werden dann sehr ungerechterweise der ganzen menschlichen Natur zur Last gelegt.«
»Ich sollte denken,« antwortete der andre, »ich hätte der Erfahrungen genug und satt gehabt. Meine erste Geliebte und mein erster Freund betrogen mich auf die schändlichste Weise, und zwar bei Gelegenheiten, wo es mir die ärgsten Folgen, ja selbst einen schimpflichen Tod hätte zuziehen können.«
»Dennoch werden Sie mir verzeihen,« rief Jones, »wenn ich Sie zu überlegen bitte, was für eine Geliebte und
Weitere Kostenlose Bücher