Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition)
Furcht vor Gefahr ein Ende machte und mir Gelegenheit gab, noch einmal meine väterliche Wohnung zu besuchen und von dem Zustande meiner Sachen einige Erkundigung einzuziehen. Ich brachte solche sehr bald, sowohl zum Vergnügen meines Bruders als zu meinem eignen, in Ordnung, indem ich auf alles und jedes gegen eine Auszahlung von tausend Pfund Sterling und eine jährliche kleine Leibrente meinen Ansprüchen entsagte.
[138] Sein Betragen bei dieser Gelegenheit war, wie bei allen andern, eigennützig und ungroßmütig. Ich konnte ihn nicht als meinen Freund betrachten, und wirklich war das auch nicht sein Wunsch. Somit nahm ich kurz drauf sowohl von ihm als von allen meinen übrigen Bekannten Abschied; und von dem Tage an bis auf den heutigen ist meine Geschichte nicht viel mehr als ein leeres Blatt.«
»Und ist es möglich, mein Herr,« sagte Jones, »daß Sie von der Zeit an bis auf den heutigen Tag hier gewohnt haben können?« – »Das nicht, mein Herr,« antwortete der Fremde. »Ich bin weit und breit gereist und es gibt wenige Teile von Europa, die ich nicht kennen gelernt hätte.« – »Mein Herr,« sagte Jones, »ich bin nicht so unbescheiden, es jetzt von Ihnen zu begehren; es wäre wirklich grausam nach den vielen Beschwerden, die ich Ihnen schon verursacht habe. – Aber Sie werden mir gütigst erlauben, daß ich mir in der Zukunft eine andre Gelegenheit wünsche, die vortrefflichen Bemerkungen zu hören, welche ein Mann von Ihrem Verstande und Ihrer Weltkenntnis auf so vielen und langen Reisen gemacht haben muß.« – »In der That, mein lieber junger Freund,« antwortete der Fremde, »ich will gerne suchen, auch über diesen Punkt, so weit ich dazu im stande bin, Ihre Neugierde zu befriedigen.« – Jones brachte neue Entschuldigungen vor, welche der Alte unterbrach; und unterdessen, daß Jones und Rebhuhn mit begierigen und ungeduldigen Ohren dasaßen, fuhr der Fremde fort und erzählte, wie im nächsten Kapitel folgt.
Fünfzehntes Kapitel.
Eine kurze Historie von Europa, und ein merkwürdiges Gespräch zwischen Herrn Jones und dem Manne vom Berge.
»In Italien sind die Gastwirte sehr eigensinnig. In Frankreich sind sie gesprächiger, aber dennoch höflich. In Deutschland und Holland sind sie gemeiniglich neugierig, zudringlich und grob, und was ihre Ehrlichkeit anbelangt, so glaub' ich, sind sie sich in allen diesen Ländern so ziemlich ähnlich. Die Mietlakaien sind sehr auf ihrer Hut, keine Gelegenheit zu verlieren, wo sie den Fremden prellen können; in Ansehung der Postillone bin ich der Meinung, daß sie durch die ganze Welt von einem Schlage sind. Dies, mein Herr, sind die Bemerkungen, welche ich auf meinen Reisen über die Menschen gemacht habe. Denn mit andern Menschen habe ich niemals Umgang haben wollen. Mein Vorsatz, als ich außer Lands ging, war, mich über der unendlichen Mannigfaltigkeit von Prospekten, Tieren, [139] Vögeln, Fischen, Insekten und Pflanzen zu zerstreuen und zu vergnügen, womit es Gott gefallen hat, die verschiedenen Teile dieses Erdballs zu bereichern. Eine Mannigfaltigkeit, welche, indem sie dem nachsinnenden Beobachter ein inniges Vergnügen gewährt, auch zugleich die Macht, die Weisheit und Güte des Schöpfers auf eine bewundernswürdige Weise verkündigt. Die Wahrheit zu sagen, gibt es in seiner ganzen Schöpfung nur ein einziges Gemächte, das nicht zu seinem Preise gereicht, und mit diesem hab' ich schon längst vermieden, nur irgend etwas zu schaffen zu haben.« – »Sie werden mir verzeihen,« rief Jones. »Ich bin aber beständig der Meinung gewesen, daß gerade in diesem Gemächte, dessen Sie erwähnen, eine ebenso große Mannigfaltigkeit herrsche, als in allen übrigen. Denn nicht zu gedenken der großen Verschiedenheit der Gemütsarten, so haben, wie man mir gesagt hat, Klima und Gewohnheiten eine unendliche Verschiedenheit in der menschlichen Natur hervorgebracht.« – »In der That, eine sehr geringe!« antwortete der andre. »Wer deswegen reist, um sich mit den verschiedenen Sitten der Menschen bekannt zu machen, könnte sich viele Mühe ersparen, wenn er nach Venedig aufs Karneval ginge. Dort kann er auf einmal alles sehen, was er sonst an den verschiedenen europäischen Höfen zu entdecken sucht. Eben dieselbige Verstellungskunst, eben dieselbige Falschheit, kurz, eben dieselbigen Thorheiten und Laster, nur in verschiedene Formen gekleidet. In Spanien geht man mit großer Ernsthaftigkeit und in Italien mit vielem Glanze vermummt. In
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