Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
doch Hendricks ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Fußball und Arbeit. Das war’s. Wir spielen Billard, essen Pizza, reißen Witze und reden ansonsten nur bescheuerten Mist.«
Thorne hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. »Jetzt mach aber mal ’nen Punkt. Was ist mit dir? Ich habe mit dir über Jan geredet, als wir uns getrennt haben. Du vertraust mir nie etwas an.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Du hast nie ein Wort über Familie oder Freundinnen verloren.« Hendricks lachte schroff. Thorne starrte ihn an. »Was ist?«
»Ich bin schwul, du Schwachkopf. Absolut schwul. Okay?«
Aus Gründen, die er sich nicht genau erklären konnte, wurde Thorne tiefrot im Gesicht.
Eine halbe Minute verging, bis er von seinem Tee aufblickte. »Warum, zum Teufel, hast du mir nichts davon gesagt? Angst, ich könnte denken, du stehst auf mich?«
Hendricks lachte erneut, doch keiner von beiden fand die Angelegenheit lustig. »Ich konnte es dir nicht sagen. Dir nicht. Alle anderen wissen es.«
»Was? Warum haben sie dann nichts gesagt?«
»Doch nicht denen in der Arbeit.« Hendricks’ Stimme wurde lauter. Thorne blickte peinlich berührt über Hendricks’ Schulter hinweg zu der Frau hinterm Tresen, die vor sich hin lächelte. »Ich meine jedem, an dem mir etwas liegt. Meiner Familie, meinen wirklichen Freunden … Gott, den meisten Leuten ist es doch sowieso klar. Schau doch einfach, wie ich aussehe! Du bist so … abgeschirmt. Du hast es nicht gesehen, weil es dich nicht betrifft. Du hast riesige Scheuklappen, und die habe ich total satt.«
Anne hatte den Hörer auf die Gabel geknallt und drei Zigaretten hintereinander geraucht. Jetzt war sie nicht nur wütend, sondern ihr war auch schlecht. In Gedanken ging sie alles noch einmal durch, während sie zur Kaffeemaschine am Hauptempfang marschierte.
Sie hatte Thorne auf seinem Mobiltelefon angerufen, und obwohl sie keine Ahnung hatte, wo er war oder was er tat, hatte ihn dies offensichtlich in schlechte Laune versetzt .
Sie hatten seit Sonntag nicht mehr miteinander geredet. Sie hatte gewusst, dass hinsichtlich des Falls etwas Wichtiges geschehen war, und dieses Gefühl hatte sich zu etwas anderem verdichtet, als sie ihn im Fernsehen auf der Pressekonferenz gesehen hatte.
Etwas wie Grauen.
Sie spürte, wie sich etwas zusammenbraute. Sie spürte die Kälte, als ob ein riesiger Schatten über sie hinwegziehen würde. Über alle – sie, Thorne, Jeremy. Sie hatte nach dem Telefon gegriffen, weil sie ein beruhigendes, ein zärtliches Wort brauchte. Sie wollte auch ihm diesen Trost zukommen lassen, weil sie dachte, dass er ihn ebenfalls brauchen könnte.
Und alles, was sie erhalten hatte, waren gehässige Worte. Er hatte ihr gesagt, nein, er hatte ihr befohlen, sich von Jeremy Bishop fern zu halten. Er versicherte ihr, dies sei zu ihrem eigenen Schutz, obwohl er nicht glaube, dass sie unmittelbar in Gefahr sei. Es sei eben nur das Beste. Das Beste, hatte er gesagt. Er hatte erklärt, wie er versucht habe, sie aus der ganzen Sache herauszuhalten, um ihre Gefühle zu schonen und einen möglichen Interessenkonflikt zu vermeiden, doch nun würde sich die Situation zuspitzen, sodass er sich entschlossen habe, die Karten offen auf den Tisch zu legen.
Schwachsinn!
Er hatte das Thema vermieden, bis er ihr an die Wäsche gegangen war, und jetzt meinte er, das Sagen zu haben. Sie ließ sich auf nichts ein, was sie ihm auch unmissverständlich deutlich gemacht hatte.
Die Kaffeemaschine spuckte immer wieder ein Zwanzigpencestück aus. Und immer wieder warf Anne die Münze in den Schlitz, nahm sie aus dem Rückgeldfach und warf sie wieder hinein.
Die Dinge hatten sich ziemlich zugespitzt, vor allem als sie den verräterischen Klang einer Bierdose gehört hatte, die gerade geöffnet worden war. Wo auch immer er steckte, er trank. Das – in Anbetracht des angeblichen Ernstes der Situation – ärgerte sie maßlos. Verdammt noch mal, was erlaubte sich der Kerl bloß!
Dann hatte er sie gefragt, ob sie über Nacht zu ihm kommen könnte.
Sie knallte den Handballen gegen die Kaffeemaschine …
In dem Moment hatte sie aufgelegt.
Sie gab den Kampf mit der Maschine auf und ging zurück in Richtung Intensivstation. Sie war voll in der Stimmung, am Abend bei Jeremy vorbeizuschauen. Das würde sie natürlich nicht tun. Sie würde den Abend zu Hause mit Rachel verbringen, wenn sie da war, zu viel Wein trinken, sich mit Fernsehen betäuben und sich fragen, was Tom Thorne wohl
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