Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
versteckte Frage. »Geht’s ihr besser?«
Anne schüttelte den Kopf, und zum ersten Mal spürte auch sie, dass sie müde war. »Sie wird immer anfällig sein für irgendwelche Infektionen. Zwei Schritte vor …«
Ein Tanz, der Thorne nur allzu vertraut war.
Anne hob die Augenbrauen. »Was hast du zu Alison gesagt?«, fragte sie in Gedanken an das Foto vom letzten Mal, das er versteckt gehalten hatte.
Thorne lachte. Es war ein bitteres Lachen. »Ich habe ihr gesagt, dass ich kurz davor sei, Jeremy Bishop zu verhaften.«
Die Stille, die sich über sie legte, schien etwas Endgültiges zu haben, bis Anne sie brach, ohne ihn anzuschauen. »Warum hast du geglaubt, dass er es war?«
Hast? Vergangenheitsform. Nicht für Thorne.
»Angefangen hat es mit dem Midazolam-Diebstahl. Dann die Verbindung zu Alison und das fehlende Alibi für die anderen Morde. Die Täterbeschreibung, das Auto …« Er seufzte schwer, drückte sich Daumen und Zeigefinger fest gegen die geschlossenen Augen und massierte sie. »Das ist alles Theorie. Ich habe keine Beweise, mit denen ich einen Durchsuchungs- oder gar Haftbefehl erwirken könnte.«
»Was, dachtest du, würdest du finden?«
»Vielleicht eine Schreibmaschine. Oder das Midazolam. Sofern er sie nicht im Krankenhaus aufbewahrt, was …«
Anne war aufgestanden und marschierte im Zimmer umher. »Du klammerst dich immer noch an diese Substanz, aber es ergibt überhaupt keinen Sinn. Warum zum Teufel sollte er es nötig haben, Midazolam in dieser Menge zu stehlen? Jeremy arbeitet jeden Tag mit diesem Zeug. Wenn er wollte, könnte er so viel mitnehmen, wie er wollte, ohne dass dadurch ein Verdacht auf ihn fiele. Er könnte sich eine Ampulle am Tag, ach was, auch mehrere in die Tasche stecken, und das jeden Tag ein halbes Jahr lang, und niemand würde es merken. Warum also sollte er die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem er eine große Menge auf einmal klaut? Erst wenn eine Substanz in diesen Massen fehlt, wird es registriert. Jeremy hätte das nicht nötig gehabt, Tom.«
Und bumm! Da war sie. Die Melodie, die er nicht zuordnen konnte. Genau das war’s, was ihm die ganze Zeit Sorgen gemacht und als glitschiges und schwer zu fassendes Etwas hinten in seinem Gehirn gelauert hatte. Anne hatte natürlich Recht. Warum war niemand auf die Idee gekommen, mit einem Arzt zu reden? Warum war dies vergessen worden? Warum hatte er dies vergessen?
Ganz einfach: Er wollte es nicht.
Hendricks: Du hast riesige Scheuklappen, und die habe ich total satt.
Er spürte, wie ihm der Atem genommen, ihm förmlich aus dem Leib geschlagen wurde. Vor ihm brach eine Welt zusammen.
»Es tut mir Leid, Tom.«
Er schloss die Augen. Nicht Anne war es, die sich entschuldigen sollte. Es gab Menschen, bei denen er sich entschuldigen musste.
Gleich beim ersten Mal, als er Bishop gesehen hatte, hatte er gedacht, er sähe aus wie der Arzt aus Auf der Flucht. Dieser war genauso unschuldig gewesen.
»Ich habe gedacht , er sei es, und habe es damit verwechselt, dass ich wollte, er sei es. Ich glaube …«
»Tom, das ist doch jetzt egal. Niemandem wurde geschadet.«
»Ich war so sicher, Anne. So sicher, dass Calvert der Mörder …« Er schüttelte den Kopf und versuchte, es mit einem Lachen abzutun.
Ein Versprecher.
»Bishop, meine ich. Bishop.«
»Wer ist Calvert?«
Whisky, Urin und Schießpulver. Und frisch gewaschene
Nachthemden. O Himmel, nein …
»Tom, wer ist Calvert?«
Dann flossen die Tränen. Er ließ sie alle hochkommen, alle herzzerreißenden, widerlichen Momente. Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren wollte er sich dieser Vergangenheit ganz offen stellen. Jan hatte nie die Zeit oder den Nerv für die ganze Geschichte gehabt, aber jetzt würde er nichts auslassen. Keine geschönte Version, sondern die grausame Wahrheit.
Thorne bemühte sich, sein Schluchzen unter Kontrolle zu bekommen.
Dann begann er zu erzählen.
Einundzwanzig
Freitag, 15. Juni 1985. Kurz vor Feierabend.
Ein großer Fall. Der größte seit Jack the Ripper. Fünfzehntausend Verhöre in achtzehn Monaten und keine Ergebnisse. Die Presse spielt verrückt, aber doch nicht so sehr wie damals. Schließlich bringt er keine Frauen oder Heteromänner um. Nur die richtige Dosis moralischer Entrüstung, gewürzt mit Selbstgerechtigkeit und gelegentlichen Kommentaren über die »Risiken bei dieser Art von Lebensstil«.
Keine grässlichen Spitznamen, doch wenn die Sun mit »Tunten-Mörder« durchgekommen wäre, hätte sie diesen Namen mit
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