Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
Hotel, und er ist kein Türsteher. Calvert geht durch die Tür hindurch, bleibt stehen und dreht sich um. »Na dann …«
»Danke für Ihre Hilfe, Mr. Calvert. Wir werden uns noch einmal melden, wenn wir etwas brauchen.«
Thorne streckt die Hand aus, ohne darüber nachzudenken. Er schaut zu dem Polizisten an der Pforte, der versucht, Thornes Blick auf sich zu ziehen, und mit den Lippen die Worte über eine Party für eine Sekretärin formt, die gekündigt hat. Thorne spürt eine große, schwielige Hand in seiner und dreht sich zu Francis John Calvert um.
Und alles ändert sich.
Es ist nicht die Ähnlichkeit mit dem Phantombild. Die hatte er in dem Moment festgestellt, in dem er Calvert zum ersten Mal gesehen hatte, es aber gleich darauf wieder vergessen. Es ist nicht die Ähnlichkeit, sondern es ist tatsächlich das Gesicht. Thorne blickt in Calverts Gesicht und weiß es.
Er weiß es.
Es dauert höchstens ein oder zwei Sekunden, doch es ist genug. Er sieht durch das, was hinter diesen tiefen blauen Augen liegt, und was er sieht, erschreckt ihn.
Er sieht Sauftouren und Fußball am Samstagnachmittag, Wolfsgeheul mit seinen Kumpels und eine glühende Wut, die in der bequemen Gleichförmigkeit einer Ehe ohne Liebe und Sex kaum in Schach gehalten werden kann.
Er sieht etwas Tiefes, Dunkles und Verrottendes. Etwas Stinkendes, das sich in die Erde ergießt und blubbert. Blut.
Er kann es nicht erklären, aber er weiß, dass es sich bei Francis John Calvert um Johnny Boy handelt. Er weiß, dass der Mann vor ihm, der ihm gerade die Hand geschüttelt hat, in den letzten eineinhalb Jahren ein halbes Dutzend schwuler Männer verfolgt und abgeschlachtet hat.
Thorne bleibt wie angewurzelt stehen, unsicher, ob er sich jemals wieder wird bewegen können. Er ist starr vor Angst. Jeden Moment wird er sich in die Hose pinkeln. Dann sieht er das, was am erschreckendsten ist.
Calvert weiß , dass er es weiß.
Thorne glaubt, dass sein Gesicht starr ist, ausdruckslos. Tot. Offenbar stimmt das nicht. Er sieht die Veränderung in Calverts Augen, als sie seinen Blick kreuzen. Nur ein leichtes, winziges Zucken.
Und das Lächeln, das ein wenig schwächer wird.
Dann ist es vorbei. Die Hand wird losgelassen, und Calvert bewegt sich durch die Eingangshalle zum Haupteingang. Eine Sekunde lang bleibt er stehen und dreht sich um. Sein Lächeln ist vollständig verschwunden. Der Sergeant faselt etwas von der Party, doch Thorne blickt Calvert hinterher, der durch die Tür hinausgeht. Der Blick auf seinem Gesicht könnte Angst bedeuten. Vielleicht auch Hass.
Und irgendwo in der Ferne singt eine hohe, liebliche Stimme immer noch von imaginären Engeln.
Thorne erzählt es niemandem. Weder Duffy noch seinen Kumpels oder Kollegen. Was hätte er ihnen auch sagen sollen? Natürlich sagt er auch Jan nichts davon. Sie ist mit ihren Gedanken ohnehin ganz woanders. Er und sie arbeiten an einem Baby.
Am Wochenende, zu Hause mit ihr, weiß er, dass er distanziert ist. Am Samstagnachmittag gehen sie auf dem Chapel Market spazieren, als sie ihn fragt, ob etwas nicht stimme. Er sagt nichts.
Am Sonntagabend will sie mit ihm schlafen, doch jedes Mal, wenn er die Augen schließt, sieht er Francis Calvert, der einen Arm um den Hals eines Jungen legt und ihn an sich zieht, seinen weichen Mund auf den des Jungen drückt und ihn küsst. Während Thorne stöhnt und in seiner jungen Frau kommt, sieht er Calverts andere starke und schwielige Hand, die in die Tasche greift und das zwanzig Zentimeter lange Sägemesser hervorzieht.
Während Jan tief und fest neben ihm schläft, liegt er die ganze Nacht wach. Am Morgen hat er sich selbst von seiner Dummheit überzeugt, doch nach einer Stunde sitzt er in seinem Wagen in einer kleinen Straße abseits der Kilburn High Road und beobachtet Francis Calverts Wohnung.
Montag, 18. Juni 1985.
Er muss ihn nur noch einmal wieder sehen, mehr nicht. Sobald er ihn aus der Tür treten sieht, wird er in ihm das erkennen, was er wirklich ist. Ein widerlicher Schlammwühler, mehr nicht. Ein dreckiges Stück Scheiße, das sicherlich schon einmal beim Fahren mit einem nicht versicherten Fahrzeug erwischt wurde, ein Arschloch, das mit ziemlicher Sicherheit seinen Fernsehapparat nicht angemeldet hat und vielleicht seine Frau schlägt.
Kein Mörder.
Ein Blick, und Thorne wird wissen, dass er dumm war. Er wird merken, dass das Erlebnis im Flur der Polizeibehörde eine geistige Verwirrung war.
Er sitzt lange in seinem Wagen. Bis
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