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Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns

Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns

Titel: Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Billingham
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jetzt haben die Menschen noch nicht ihre Häuser verlassen, um zur Arbeit zu gehen. Calverts weißer Astra-Kombi steht vor seiner Wohnung.
    Während der nächsten Stunde beobachtet er, wie die Menschen herauskommen. Die Türen gehen auf und spucken Männer und Frauen in Anzügen und Kostümen, mit Taschen und Aktenkoffern aus. Sie steigen in Autos, setzen sich auf Fahrräder oder marschieren Richtung Bus und U-Bahn.
    Calverts Tür bleibt fest verschlossen.
    Thorne sitzt da und starrt auf den schmutzigen weißen Kombi. Buchstaben auf der Seite: F.J. C ALVERT . B AUUNTERNEHMER .
    Dumm! Er war so dumm gewesen. Er müsste seinen Wagen anlassen, zur Arbeit fahren, mit seinen Kollegen über die Sache Witze reißen und vielleicht bei der Organisation für die Abschiedsparty mithelfen. Auf jeden Fall müsste er Francis John Calvert vergessen, doch stattdessen ertappt er sich dabei, wie er über die Straße geht.
    Er ertappt sich dabei, wie er an eine schmutzige grüne Tür klopft.
    Er ertappt sich dabei, wie er zu schwitzen anfängt, als niemand öffnet.
    In der respektvoll gedämpften Euphorie der bevorstehenden Tage, bevor herauskommt, dass Calvert bei vier verschiedenen Gelegenheiten verhört worden war, vor den Rücktritten, vor dem landesweiten Skandal … wird es Worte des Lobes für Detective Constable Thomas Thorne geben. Ein junger Beamter voller Initiative, der seine Arbeit macht und alle Gedanken um seine eigene Sicherheit aus seinem Kopf verbannt.
    Aus seinem Kopf …
    Es ist, als beobachte er sich selbst, als wäre er ein neugieriger Zuschauer. Er hat keine Ahnung, warum er versucht, die Tür zu öffnen. Warum er sich gegen sie lehnt. Warum er zu seinem Wagen zurückrennt und einen Schlagstock aus dem Kofferraum holt.
    Calverts Frau scheint überrascht, ihn zu sehen. Mit weit aufgerissenen Augen blickt sie ihn an, als er mit angehaltenem Atem und Herzklopfen eintritt. Sie liegt auf dem Boden, ihr Kopf lehnt an der schmutzigen weißen Tür des Schranks unter der Spüle. Die blauen Flecken um ihren Hals beginnen sich schwarz zu verfärben. Immer noch hält sie einen Holzlöffel in der Hand.
    Sie war die Erste, die starb. Das musste sie. Das würden ihm die Kinder erzählen.
    Denise Calvert, 32. Erwürgt.
    Wie ein Tiefseetaucher, der ein Wrack untersucht, langsam und mit dem seltsamen Gefühl von Anmut, bewegt sich Thorne durch die Wohnung. Die Stille dröhnt in seinen Ohren. Im Wasser um ihn herum schweben Geister …
    Er findet sie in dem kleinen Kinderzimmer hinten in der Wohnung. Sie liegen nebeneinander auf dem Boden zwischen den Stockbetten und der kleinen einzelnen Matratze.
    Er kann seinen Blick nicht von den sechs kleinen weißen Füßen abwenden.
    Er bekommt keine Luft mehr, lässt sich auf die Knie fallen und krabbelt über den Boden. Er nimmt das auf, was er sieht, doch er weigert sich, die Informationen korrekt zu verarbeiten. Nach Atem ringend, stößt er einen Schrei aus. Er schreit die toten Mädchen an. Er fleht sie an. Bitte … ihr werdet zu spät zur Schule kommen.
    Eigentlich bettelt er sie an, ihn zu retten.
    Er riecht das Shampoo in ihrem Haar. Er riecht die frisch gewaschenen Nachthemden und den Urin, der in den Stoff gesickert ist. Er sieht den Fleck auf der Matratze auf dem Boden, wo Calvert die Mädchen wahrscheinlich der Reihe nach genommen hat. Er hat sie nebeneinander hingelegt und ihnen die Arme über der Brust verschränkt – ein groteskes Bild des Friedens.
    Aber sie starben nicht friedlich.
    Lauren Calvert, 11. Samantha Calvert, 9. Anne-Marie Calvert, 5. Erstickt.
    Drei kleine Mädchen, die schrien, kämpften, mit den Füßen traten, fortrannten, um ihre Mutter zu suchen, und dann noch lauter schrien – ihre Mutter war bereits tot, in dem einzigen Zustand, in dem sie diesem Schrecken zustimmen konnte, von dem ihre Kinder heimgesucht wurden. Dann schloss der Mann, den sie liebten und dem sie vertrauten, die Kinderzimmertür, und sie flatterten panisch hin und her wie Motten in einer Lichtfalle. Sie rannten gegen Wände, klammerten sich aneinander, und als er eine von ihnen ergriff und auf die Matratze stieß, bissen, kratzten und schrien sie und krabbelten auf ihren kleinen Fingern davon – weg von diesen starken, schwieligen Händen.
    Thorne muss das glauben. Er kann nicht akzeptieren, dass sie ihren Daddy angelächelt haben, während er das Kissen auf ihre Gesichter drückte.
    Das wird er nicht akzeptieren.
    Vielleicht eine halbe Stunde später findet er Calvert. Er hat keine

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