Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
Mögliche.«
»Hört sich interessant an.«
»Nicht wirklich. Jetzt überlasse ich Sie wieder Ihrem Schlaf.«
Es war nach Mitternacht. Er saß in einem unbequemen Sessel mit einem unaussprechlichen schwedischen Namen und brachte sein Leben wieder auf die Reihe – oder völlig durcheinander. Warum dachte er immer, er würde etwas erreichen, wenn er jemand anderem ans Schienbein trat? Er war der vorlaute Typ in der Schule, der sich vom Lehrer sagen lassen musste, dass er Unrecht hatte. Er war der wütende Autofahrer, der an der Kreuzung losbrausen wollte, bis der andere Fahrer auf das Straßenschild deutete und zeigte, wer Vorfahrt hatte. Er war der dumme Polizist, der sich nicht vorstellen konnte, dass er falsch lag. Der Idiot, dessen Gefühle ihm ins Gesicht geschrieben waren. Dieses Gesicht sprach Bände. Es flüsterte: »Du machst einen Fehler.« Es murrte: »Ich habe Recht.« Es schrie: »Ich weiß!« Solange er sich erinnern konnte, hatte dieses Gesicht stets genügend solcher Sprüche auf Lager gehabt. Es hatte Kollegen befremdet und Vorgesetzte zum Explodieren gebracht.
Es hatte Francis Calvert dazu gebracht, Kinder zu töten.
Eine Dose Bier war noch übrig. Er legte sein Lieblingslied von George Jones auf und drehte die Lautstärke hoch. Jones’ Duett mit Elvis Costello …
»There’s a stranger in the house no one will ever see …
but everybody says he looks like me.«
Bei Keable würde er vorsichtig sein müssen. So sehr Keable Thornes Theorie über Jeremy Bishop auch ablehnte, er wusste doch, dass der Mörder und Thorne eine Verbindung miteinander hatten. Der erste Brief an der Windschutzscheibe war geschrieben worden, bevor Thorne und Bishop sich kennen gelernt hatten. Es gab eine Verbindung. Der Mörder wollte Thorne in seiner Nähe haben. Thorne wusste, dass, was auch immer er unternahm, Keable ein Auge darauf haben würde. In Wahrheit wusste Thorne gar nicht genau, was er tun würde. Noch beunruhigender war, dass er keine Ahnung hatte, was Bishop im Schilde führte. Wie würde er reagieren, wenn Thorne nicht mehr an dem Fall arbeitete? Würde er … beleidigt sein? Würde er etwas tun, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die er meinte, verdient zu haben?
Thorne versuchte, nicht an die Dinge zu denken, die ihn seine Entscheidung bitter bereuen lassen könnten. Er sagte sich, dass er eigentlich keine Wahl hatte. Man würde ihm nicht zuhören. Noch schlimmer war, dass man über ihn urteilte. Die Sache mit Calvert in Verbindung brachte. Fünfzehn Jahre, und immer noch war er gezeichnet, wurde sein Instinkt als Besessenheit abgetan. Jede Beobachtung, jeder Gedanke wurde gewichtet, bewertet und für mangelhaft befunden.
Er hielt diese Bewertungen nicht länger aus. Ihm lag nichts an dem Urteil der Lebenden.
Jeden Tag wurde er von den Toten bewertet.
Er musste sich aus einer Sonderkommission zurückziehen, die ihn erstickte. Er musste da raus und Dinge ins Laufen bringen. Während er irgendwelchen Spuren folgte und das richtige Lächeln aufsetzte, hielt Jeremy Bishop ihn zum Narren.
Es war Zeit, der Sache eine andere Richtung zu geben.
Er musste ins Bett gehen. Der nächste Morgen würde nicht angenehm werden, und er würde bei klarem Verstand sein müssen. Doch einen Anruf musste er noch erledigen. Er stand auf und holte sein Adressbuch vom Kaminsims. Er hatte nicht viele Nummern von Pornografen auswendig im Kopf.
Ich bin froh, dass Anne wieder mehr Zeit mit mir verbringt. Ich hatte schon gedacht, dass sie wieder mit anderem beschäftigt ist, dass das Neue seinen Reiz verloren hat. Ich hätte ihr keinen Vorwurf gemacht, aber ich kann nicht glauben, dass sie viele wie mich hat. Sie hat erzählt, dass die Arbeit immer mehr wird und der Verwalter ein Arschloch ist. Wenn ich nicht bald ein paar Erfolge vorweise, könnte man mich auf die Straße setzen. Jemand könnte mein Bett brauchen.
Wir haben ziemlich viel »Ja«- und »Nein«-Erfolge, und »Schmerz« ist eine meiner Spezialitäten. Einmal für Ja und zweimal für Nein ist theoretisch ganz gut, aber die Kontrolle lässt mich im Stich. Und die Abstände zwischen den Bewegungen haben überhaupt kein System. Ich versuche, zweimal zu blinzeln, aber Anne kann kaum erkennen, ob ich »nein« oder »ja, ja« sagte. Oft fragt sie:»Ist das ein ›Ja‹, Alison? Nein? Ist das also ein ›Nein‹?« Wir sind wie zwei komische Ausländer in der Benny-Hill-Show. Dad hat sich dabei immer fast in die Hosen gemacht. Mum stand noch
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