Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders
um ihm eine willkommene Entschuldigung zu liefern, das Gespräch zu beenden. Auf dem Weg durch die Drehtür kam ihm noch ein weiterer Gedanke. Vielmehr eine Frage. Hatte er inzwischen einen derart austarierten, rasiermesserscharfen Instinkt entwickelt oder war er bloß ein zynischer Bastard ?
»Was halten Sie von ihm?«, fragte Holland. Sie liefen die Shaftesbury Avenue entlang, zum Eingang des NCP-Parkhauses an der Gerrard Street, wo Thornes alter Mondeo den durchschnittlichen Wiederverkaufswert der geparkten Autos kräftig senkte. Ein strahlender Tag, aber eiskalt. Wie gemacht für Schal und Sonnenbrille …
»Vermutlich war er mit Jane Lovell in der Kiste, zumindest irgendwann mal.«
Holland nickte. »Sollen wir uns drum kümmern?«
Thorne schnitt eine Grimasse. Er war ein Zyniker, doch das bisschen Instinkt, das er hatte, sagte ihm, dass Bracher zwar ein arroganter Kotzbrocken sein mochte, aber mehr nicht. Wie viele dieser Typen ihm wohl noch über den Weg liefen, bevor dieser Fall abgeschlossen war?
Zurück im Becke House lief Thorne an McEvoy vorbei, die in der Haupteinsatzzentrale telefonierte. Sie winkte ihm zu, um ihm zu bedeuten, dass sie mit ihm reden müsse. Er nickte und ging weiter zu seinem Büro.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und blätterte in dem Tischkalender vor sich weiter zu Dienstag, dem 11. Dezember. Eine Minute lang starrte er wie gebannt auf den psychedelischen Bildschirmschoner, den Holland für ihn installiert hatte. Die kräftigen Farben waberten und verschwammen ineinander, und er konnte die Augen nicht abwenden, bis sie ihm wehtaten. Ein Bildschirmschoner solle, hatte man ihm erklärt, den Bildschirm davor bewahren »auszubrennen«. Burn out – Thorne fragte sich, ob sie so was nicht auch für Polizisten erfinden könnten.
Er stand auf und marschierte forsch in die Einsatzzentrale, ohne jemanden eines Blickes zu würdigen, ohne ein Wort zu sagen, packte einen Stuhl und zog ihn hinter sich her.
Er war noch nicht ausgebrannt …
Sein Büro konnte er nicht ausstehen, doch seine Gefühle für die Einsatzzentrale grenzten an blanken Hass. Es war unfassbar. Ein Zimmer voll scharfer Ecken und abgestandener Luft. Ein lang gestrecktes, verdrecktes Fenster, das Licht gedämpft durch schmutzig weiße vertikale Lamellen, von denen eine kaputt und zusammengeknüllt auf dem Fensterbrett inmitten Dutzender toter Schmeißfliegen lag. Mindestens zehn Schreibtische. Überall scharfe Ecken, die nur darauf warteten, einem einen harten Schlag gegen den Oberschenkel zu versetzen oder die Haut am Handrücken aufzureißen. An einer besonders fiesen Ecke stieß Thorne sich mehrmals die Woche, sosehr er sich auch vorsah. Das Zimmer war ein Feng-Shui-Albtraum. Nicht dass er mit derlei Quatsch etwas anfangen konnte. Seiner Meinung nach gab es nur einen einzigen Grund, seine Möbel und persönlichen Dinge neu zu arrangieren – und der hatte mit Einbrechern und Abwehrmaßnahmen zu tun.
Er zerrte den Stuhl quer durch den Raum und achtete dabei darauf, einen großen Bogen um den lebensgefährlichen Schreibtisch zu machen. Am anderen Ende des Zimmers angelangt, setzte er sich hin und starrte die Wand an.
Jane Lovell. Katie Choi. Ruth Murray. Carol Garner. Die Fotokopien von Fotos an einer billigen alten Korkpinnwand.
Und Dateinamen in einem Computer und selbstklebende Etiketten auf Gläsern in einer Leichenhalle …
Mit einem dicken schwarzen Filzstift waren Pfeile und geschwungene Linien über eine abwischbare Tafel gezogen. Die Linien verbanden die körnigen Fotos der vier Opfer mit Listen voller Daten, Zeitpunkte und Örtlichkeiten. Darunter war eine weitere Reihe mit Namen. Margie Knight. Michael Murrell. Lyn Gibson.
Charlie Garner …
Zeugen. Freunde. Familienangehörige. Figuren am Rande des Falldiagramms. Thorne starrte das Chart an. Vor ein paar Nächten war er hier gesessen und hatte über die zahlreichen Menschen nachgegrübelt, deren Lebensunterhalt von Mord abhing. Nun dachte er an die eher gegen ihren Willen darin Verstrickten. An die, die sich nicht aus freien Stücken eine Rolle in diesem Procedere gesucht hatten – einem Procedere, an dessen Ende sich ihr Name auf einer abwischbaren Tafel wiederfand.
Hunderte von Leben, die vom Tod eines einzigen Menschen berührt wurden.
Jane Lovell. Katie Choi. Ruth Murray. Carol Garner. Vier Menschen, die sterben mussten. Zwei kranke Mörder. Thorne konnte den Blick nicht abwenden von den Namen und den Fotos an der Wand vor ihm, er
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