Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders

Titel: Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Billingham
Vom Netzwerk:
glücklichen Momenten völliger Dunkelheit.
    Draußen war es kalt genug für Schnee. Drinnen starrte Thorne auf sein eigenes Spiegelbild. Und fragte sich, was sich Charlie Garner wohl zu Weihnachten wünschte.

 
1986
    Sogar später, als es Winter wurde, war ihm klar, dass er es vorzog, draußen zu bleiben. Auf der Straße. Sicher würde es ein paar Tage geben, die wirklich übel waren, wenn einem vor Kälte die Eier wehtaten, wenn ihm nichts übrig blieb, als die Nacht in einer Jugendherberge zu verbringen. Er hatte gehört, wie einige von den wirklich Alten, von den dummen Arschlöchern, den Säufern, über Nächte redeten, in denen die Hose an den Beinen festfror und man sich bepinkeln musste, nur damit sie wieder auftaute. Wenn es so weit käme, würde er womöglich ins Obdachlosenasyl gehen, zurück zu heißer Suppe und dem Jesusgesülze. Ansonsten jedoch würde er draußen schlafen, sofern der Schnee nicht mindestens kniehoch lag. Deshalb nannten sie es ja »hart«, verdammte Scheiße.
    Und er hatte schon immer sehr gut Schmerzen ertragen können.
    Dieser Ort war wirklich etwas ganz Besonderes. Ein Labyrinth aus Wegen, Unterführungen und Tunneln. Eine kleine Stadt für die menschlichen Ratten. Doch erst in der Nacht erwachte die Kartonstadt wirklich zum Leben. Um den Anblick der Gesichter – der Augen, aus denen der Wahnsinn blickte, der eitrigen Geschwüre, der verfilzten Bärte – so richtig auskosten zu können, musste man sie im Licht der in den Abfalltonnen angezündeten Ölfeuer sehen. Tagsüber beherrschten die Skateboarder das Gelände, doch wenn die Dunkelheit hereinbrach, klemmten sie sich ihre Boards unter den Arm und verschwanden, nach Hause zum Abendessen, und dann kroch das Gewürm aus den Löchern. Gesindel wie er.
    Er gehörte noch nicht lange dazu. Anfangs war er zufrieden gewesen mit einer Absteige, und gewöhnlich hatte er tagsüber genug eingenommen, um im »Endell Street Spike« in Covent Garden schlafen zu können, aber es widerstrebte ihm, einen Weg nicht zu Ende zu gehen. Draußen war es am besten, und außerdem reizte es ihn, hier unten zu leben, mit der Royal Festival Hall und dem National Theatre über dem Kopf, in einer aus Schachteln errichteten und von Bier und Verzweiflung gespeisten Stadt.
    Betteln reichte im Augenblick. Er hatte genug Zeit, sich eine Strategie zurechtzulegen, doch im Moment kam er mit ein paar Pfund am Tag blendend aus. Genug, um sich eine Zeitung zu kaufen, eine Dose irgendwas und ein wenig Schokolade für einen Energieschub.
    Er war überzeugt davon, dass man stets vollen Einsatz zeigen oder es gleich bleiben lassen sollte. Er war ein sehr guter Bettler. Er stand nicht einfach da wie ein trauriges Hundebaby, das sich angepinkelt hatte, mit ausgestreckter Hand wie ein halb verhungerter Äthiopier. Er hängte sich rein. Ja, er war cleverer als die meisten anderen, und dass er erst sechzehn war, schadete nicht, denn man brauchte dafür schließlich keinen Doktortitel. Der springende Punkt war, dem Typen am Haken einzureden, er hätte keine andere Wahl. Nicht, indem man aggressiv war, nein, das war dumm und reine Energieverschwendung. Man musste einfach authentisch rüberkommen, und wenn man den Eindruck erweckte, man habe Humor, war das nicht schlecht. Wenn ich es mir leisten kann, über das hier zu lachen, Kumpel, kannst du es dir leisten, deine Hand in die Tasche zu stecken. Und wenn du darin nicht mehr findest als eine Pfundmünze, kannst du sie genauso gut mir rüberschieben. Vergelt’s Gott, der Herr …
    Diese Yuppiewichser konnten es sich ohnehin leisten.
    Abzuhauen war absolut richtig gewesen. Daran hegte er keinen Zweifel mehr. Vor sechs Monaten. Er hatte ein paar Sachen in einen Sack gestopft und sich das Geld für den Anfang aus der Börse seiner Mutter geklaut. Damals war er sich nicht hundertprozentig sicher gewesen, er hatte nur gewusst, dass er nicht dorthin gehörte.
    Dass er wegmusste.
    Er dachte noch immer an Palmer und Karen. Dachte bei weitem häufiger an sie als an seine Mum. Einmal träumte er von seinem Dad, aber er versuchte, nicht an ihn zu denken.
    Eigentlich dumm. Nicht sie fehlten ihm, er vermisste die Sachen, die er anstellen konnte, wenn sie da waren. Und was er dabei fühlte. Palmer und Karen waren für ihn wie seine Luftdruckpistole oder seine Messer oder sein Cricketschläger. Dinge, die er benutzte.
    Es war eine laue Nacht. Er legte sich zurück, den Kopf auf seinem Sack, und schaute durch die Treppen und Rampen hinauf zu

Weitere Kostenlose Bücher