Tom Thorne 06 - Die Geliebte des Mörders
und aß Toast mit Orangenmarmelade, während er Greater London Radio hörte und darauf wartete, dass seine Morgendosis Schmerzmittel wirkte. In fünf Wochen jährte sich der Tod seines Vaters zum ersten Mal.
Draußen hatte es angefangen zu nieseln, und der Moderator auf GLR versuchte gerade, ein Wort einzuwerfen, während sich irgendwelche Frauen in Rage redeten über den schrecklichen Zustand des Eisenbahnnetzes in der Hauptstadt.
Er beschloss, seine Tante Eileen anzurufen – die jüngere Schwester seines Vaters –, und Victor, den engsten Freund seines alten Herrn. Vielleicht könnten sie sich an dem Tag treffen. Zusammen etwas trinken oder so.
Seine Familie zeichnete sich nicht gerade durch einen besonders engen Zusammenhalt aus, das war noch nie der Fall gewesen. Das war alles so entsetzlich britisch, nach einem Verlust stärker zusammenzurücken. Doch auch wenn er es durchaus als die Geste sah, die es in vieler Hinsicht war, verlangte es ihn danach. Es tat ihm gut, seinen Kummer mit dem der anderen zu vergleichen. Er wollte mit Menschen zusammen sein, die mit ihm reden konnten, ohne das Gefühl zu haben, ihn wie ein rohes Ei behandeln zu müssen.
Im Radio erklärte ein Mann, die vorherige Anruferin sei anmaßend und unhöflich gewesen, habe aber recht, was das Eisenbahnnetz betrifft. Es sei wirklich marode.
Thorne dachte an die Mullens. Wie es ihnen wohl ging? Jemand zu verlieren, aber nicht sicher zu wissen, ob er tot ist, war wahrscheinlich das Schlimmste, was einem passieren konnte. Und die Mullens hielten anscheinend zusammen. Oder war es nur scheinbar? Schon merkwürdig, wie ähnlich diese Worte klangen und wie grundverschieden ihre Bedeutung war.
Er löffelte Futter in Elvis’ Schüssel, als das Telefon läutete. Und obwohl die Wirkung des Codeins noch nicht richtig eingesetzt hatte, reichte Porters Anruf, dass er die pochenden Schmerzen in seinem Bein und seinem Fuß vergaß.
Nun stand fest, dass Luke Mullen entführt worden war. Wer immer ihn festhielt, hatte sich endlich dazu durchgerungen, Kontakt aufzunehmen.
In einer Ecke unter der roten Fahne im Central 3000 waren schnell Stühle aufgestellt worden. Die Kollegen aus den anderen Abteilungen unterbrachen ihre Gespräche, blieben stehen oder arbeiteten einfach leise weiter, als das Team von der Kidnap Unit sich um das Fernsehgerät versammelte und das Video ansah, das heute Morgen bei den Mullens durch den Briefschlitz geschoben worden war.
Als das Video zu Ende war, spielte Porter die Kassette wortlos zurück, und sie sahen sich das Ganze noch einmal an.
»Versteht sich von selbst, das Original ist bereits beim FSS«, erklärte sie, als sie fertig waren. »Sie bearbeiten es vorrangig, zusammen mit dem Umschlag, in dem es steckte.«
Der Forensic Science Service arbeitete für Ermittlungen aller 43 Polizeibezirke in England und Wales. Überprüfte Waffen und Textilproben, führte toxikologische Untersuchungen und Blut-, Drogen- sowie Gewebeanalysen durch. Ihre Laboratorien in Victoria bräuchten normalerweise mindestens eine Woche, um einen Fingerabdruck oder DNS-Ergebnisse zu bearbeiten. Durch eine vorrangige Bearbeitung wurde diese Zeitspanne erheblich reduziert. Mit etwas Glück erfuhren sie bereits innerhalb eines Tages Näheres. Zumindest was die Fingerabdrücke anging.
»Nicht dass ich glaube, dass es viel bringt«, sagte Porter. Sie deutete auf den Bildschirm. Das Standbild zeigte den Mann mit der Tüte in der einen und der Spritze in der anderen Hand von hinten, so dass man sein Gesicht nicht sehen konnte, als er zielstrebig auf Luke Mullen zuging. »Sieht ganz danach aus, als wüssten sie, was sie tun.«
»Welches Medikament wird er ihm wohl spritzen?«, fragte Holland.
Ein DS vor ihm – ein langer Schotte mit einer Vokuhila-Frisur – drehte sich zu ihm um. »Vielleicht Rohypnol oder Diazepam. Wahrscheinlich ein Benzodiazepin.«
»Wie kommt der an das Zeug ran?«
»Mit einem Computer und einer Kreditkarte. Das ist heutzutage ein Kinderspiel. Vor ein paar Wochen wurde eine Website lahmgelegt, die Ketamin fläschchenweise vertickte, zusammen mit Spritzen in einem schicken Lederkoffer. Das Zeug wurde für 19,99 Pfund rausgehauen, ›date-rape kits‹.«
»Aber er muss doch wissen, was er tut? Wenn er den Jungen die ganze Zeit über sediert?«
Thorne verfolgte zwar das Gespräch, nahm aber die Augen nicht von dem erstarrten, flackernden Bild von dem Jungen und dem Mann, der ihn gefangen hielt. In den Augen des Jungen
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