Tom Thorne 06 - Die Geliebte des Mörders
rufen, dass er kein Bulle mehr ist.«
Thorne knöpfte den obersten Knopf seiner Jacke zu und grub seine Hände in die Taschen. Er dachte über das Gedächtnis nach, das perfekt funktionierte, und das Gedächtnis, das im Arsch war. Seine Erinnerungen aus der Zeit, bevor er zur Polizei ging, die verdrängt wurden von weniger angenehmen Erinnerungen. »Haben Sie je daran gedacht, vorzeitig zu gehen?«, fragte er.
»Immer wieder mal. Und Sie?«
»Es gibt Zeiten, da denk ich ziemlich viel darüber nach.«
»Was für Zeiten?«
»Wenn ich wach liege …«
Tony Mullen holte die Weinflasche aus dem Kühlschrank und griff nach dem Glas, um sich großzügig einzuschenken. Er ging zu seiner Tochter, die sich gerade ein Sandwich machte. Strich ihr über den Kopf, während er trank.
Keiner von ihnen hatte ein Wort gesprochen, seit er vor ein paar Minuten in die Küche gekommen war. Jeder erledigte schweigend, weshalb er gekommen war, bis Juliet Mullen mit ihrem Teller nach draußen ging.
Er lauschte den Schritten seiner Tochter, wie sie die Treppe hochging, dem Knarren der Treppe und dem Quietschen und Knarzen der Kinderzimmertür. Und der Musik, die in der kurzen Pause zwischen den beiden Türgeräuschen zu hören war. Er versuchte, Maggies Stimme zu hören. Und obwohl er nichts hörte, wusste er, dass seine Frau in dem einen oder anderen Zimmer des Hauses tief in ein Gespräch versunken war. Sie benutzte natürlich nicht den Festnetzanschluss, der musste schließlich frei bleiben. Aber irgendwo saß oder lag sie, das Handy ans Ohr gedrückt, und redete sich den Kummer von der Seele. Ihren Verwandten oder Freunden gegenüber oder jedem, der bereit war, ihr zuzuhören und so zu tun, als verstehe er, was los war.
Er redete, wenn er musste. Er hatte die notwendigen Informationen gegeben, als man ihn fragte. Doch abgesehen davon hatte er so gut wie nichts gesagt. So lief es immer bei ihnen, wenn es Probleme gab, wenn die Familie auf irgendeine Weise bedroht war. Er reagierte darauf mit Verschlossenheit. Er war in sich gekehrt und drehte und wendete das Problem, ohne ein Wort zu sagen, während die anderen brüllten und schrien. Luke war genauso, er wurde nie hysterisch. Gewöhnlich war es Maggie, die das Herz auf der Zunge trug. Bei Juliet wusste man nie, was in ihrem Kopf vorging.
Ihm war klar, seine Familie war nicht offen und warmherzig, seine Familie war altmodisch und bestand aus lauter Einzelkämpfern. Wahrscheinlich wäre es in vieler Hinsicht einfacher, wenn sie sich um einen Tisch setzen und sich gegenseitig das Herz ausschütten könnten. Es gemeinsam tragen könnten. Aber seine Familie war nun mal nicht so, und dafür konnte sie nichts.
Er strich mit den Fingern über die glatte, kalte Oberfläche der Küchentheke und dachte über DI Tom Thorne nach. Dieser hintertriebene Mistkerl hatte ihn gestern ganz schön in die Enge getrieben, ihn mit seinen Fragen gepiesackt, obwohl nur eine Person im Raum je DCI war und nur eine weitere es je werden würde. Er war Jesmond dankbar, noch ein paar zusätzliche Ermittler abgeordnet zu haben, aber auf Thorne würde er aufpassen müssen. Dieser Typ Bulle – Marke Elefant im Porzellanladen – löste keine Fälle wie diesen. Um seinen Sohn freizubekommen, musste man das Naheliegende tun und durfte sich nicht generell gegen alles sperren, was einem gesagt wurde, und sich nicht daran festbeißen, wie viele Namen auf so einer Scheißliste stehen.
Mullen leerte sein Glas und dachte über den Namen nach, den er nicht auf die Liste gesetzt hatte. Er sagte sich, dass es nicht wichtig war. Dass es in diesem Zusammenhang kein Problem darstellte. Dass er richtig gehandelt hatte. Sein Beweggrund mochte albern sein, aber für diese kleine Lüge allemal ausreichend.
Er hätte den Mann nur zu gern vergessen, dessen Name in seinem Hirn eingebrannt war. Ein mit unglücklichen Erinnerungen verbundener Name, aber – und nur das zählte – ein Name, der nicht das Geringste mit dem Verschwinden seines Sohnes zu tun hatte. Oder damit, wer Luke festhielt, wo er festgehalten wurde und was seine Entführer wollten. Also war er nicht wichtig. Was konnte es schon schaden, diesen einen Namen wegzulassen?
Er lauschte noch ein, zwei Minuten, bevor er wieder an den Kühlschrank trat.
Was konnte es schaden?
Amanda
Es war eine Tüte. Eine einfache Plastiktüte, die an dem Elend schuld war. Und immer wieder neues Elend verursachte, wenn man den zahlreichen Seelenklempnern und Sozialarbeitern
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