Tom Thorne 06 - Die Geliebte des Mörders
hätten zwei oder drei Tage vor Lukes Verschwinden gesehen, wie sich Luke und die geheimnisvolle Frau geküsst hätten. Einer von Lukes Klassenkameraden erklärte, er glaube, Luke habe heimlich eine Freundin gehabt, und er habe angedeutet, mit ihr irgendwohin abhauen zu wollen. Vielleicht nach Spanien oder Frankreich.
Nichts in den Geschichten brachte sie einer Identifikation des Wagens näher. Bislang war es zwar noch ein Passat und eher ein dunkelblauer als ein schwarzer, aber die Informationen zum Kennzeichen erwiesen sich als wertlos, nachdem von all denen, die schworen, den Wagen gesehen zu haben, ein ganzes Dutzend weiterer Buchstaben und Ziffern ins Feld geführt wurden.
Die Beschreibungen der Frau entsprachen mehr oder weniger denen, die sie bereits hatten. Obwohl auch hier die Aussagen an Glaubwürdigkeit einbüßten, als sich herausstellte, dass die Informanten miteinander gesprochen hatten. Sie war Ende zwanzig. Sie war dunkelblond. Sie war sehr dünn. »Aber lecker«, meinte einer von Lukes Klassenkameraden. »Luke fand sie toll. Aber er hatte ja wohl nicht viel Vergleichsmöglichkeiten, oder?«
Die offizielle Sprachregelung war in solchen Fällen stets, man suche nach einem vermissten Teenager. Ausdrücke wie »Entführung« oder »Kidnapping« wurden außerhalb der Abteilung oder des Mullen-Hauses nicht verwendet. Ganz im Einklang mit den entsprechenden Bestimmungen.
Eine Schule aber war nicht nur die ideale Brutstätte für Viren aller Art, sondern auch für Gerüchte aller Art.
»Das ist die Frau, die Luke Mullen gekidnappt hat, oder?« Der Junge war fünfzehn, eine Klasse unter Luke Mullen, aber er benahm sich wie ein Schüler, der drei oder vier Jahre älter war.
»Ich fürchte, ich kann nicht zu sehr in Einzelheiten gehen«, sagte Holland. Der Junge trug die Haare ordentlich gescheitelt und hielt einen kleinen Aktenkoffer in der Hand. Holland vermutete, dass er wohl nicht zu den großen Rugby-Stars der Schule gehörte.
»Ich verstehe.«
Holland erkannte sofort, dass es am besten war, den Jungen so zu behandeln, als sei er so reif, wie er wirkte. »Aber natürlich gehört sie zu den Personen, nach denen wir suchen.«
»Was haben Sie bisher an Beschreibung?«, fragte der Junge.
Holland sah kurz zu Kenny Parsons, bevor er die grundlegenden Fakten nannte. »Wenn Sie uns dazu aber noch mehr sagen könnten …«
»Ich bin einer der Besten in Kunst«, sagte der Junge.
Holland starrte ihn an.
»Ich hab sie ziemlich deutlich gesehen, als sie mit Luke gesprochen hat. Ich könnte sie zeichnen, wenn Sie möchten.«
»Wir werden alles Nötige dafür in die Wege leiten, so schnell wir können«, sagte Holland.
Parsons notierte sich den Namen und die Adresse des Jungen. Sie stellten ihm noch ein paar weitere Fragen. Sie wollten wissen, wo genau er letzten Freitag gestanden hatte, wie weit die beiden von ihm entfernt gewesen waren, ob er zu diesem Zeitpunkt allein gewesen war.
»Es hat geheißen, sie sei Lukes Freundin oder was in der Richtung«, erklärte der Junge wie aus heiterem Himmel. »Ich bin davon nicht überzeugt.«
»Warum nicht?« Holland konnte sich nur schwer vorstellen, dass der Junge in diesen Dingen ein Experte war.
»Körpersprache.« Er sagte es, als liege es auf der Hand. Und als beginne ihn, das Gespräch etwas zu langweilen. Dabei strahlte er jedoch eine Autorität und ein Selbstvertrauen aus, was ihn, zumindest in Hollands Augen, merkwürdigerweise nur glaubwürdiger machte.
»Was war mit Luke? Wie wirkte er?«
»Der schien zufrieden. Sie liefen direkt an mir vorbei, und er redete mit ihr.«
»Haben Sie …?«
»Leider habe ich nichts davon verstanden, was sie sagten, aber er schien … glücklich und zufrieden.«
»Es machte also nicht den Eindruck, als würde er gezwungen, in das Auto zu steigen? Er schien keine Angst zu haben?«
»Nein, aber sie.« Der Junge schwenkte zerstreut seine Aktentasche und schaute an Holland und Parsons vorbei zum Schultor, als warte er auf einen Freund. »Sie sah aus, als hätte sie eine Höllenangst.«
Thorne hatte seine Travelcard gut ausgenutzt.
Er war in Barking drüben gewesen, um mit einem DI der dort untergebrachten Intel Unit zu sprechen. Dann hatte er eineinhalb Stunden gebraucht, um nach Finchley zu fahren, wo er einen DCI der Flying Squad interviewte, der berühmt-berüchtigten mobilen Einsatztruppe. Beide hatten ihm berichtet, was für ein netter Kerl Tony Mullen war. Was für ein Verlust es gewesen sei, als er so früh
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