Tom Thorne 06 - Die Geliebte des Mörders
der Ruhe, Tiger …«
»Jetzt werden Sie nicht albern!« Kaum war Holland die bissige Bemerkung entschlüpft, fiel ihm ein, dass Thorne genau dasselbe und auf dieselbe Weise gesagt hatte, als gewisse Anspielungen über DI Louise Porter fielen. Dann wandte er sich um zur Schule und sah den Jungen.
Er kam mit drei anderen aus dem Gebäude. Er war nicht der Größte und nicht der Erste, dennoch zog er automatisch die Blicke auf sich. Er machte eine Bemerkung, und die anderen lachten. Holland war sofort klar, dass er der Anführer war. Der Mittelpunkt, um den die anderen kreisten.
Als die Gruppe näher kam, beobachtete Holland, wie der Junge seine Erscheinung veränderte: die tägliche Verwandlung von Schule zur Straße. Die Krawatte wurde gelockert und heruntergezogen, die blonden Haare zerwühlt, und als er fertig damit war, an seinem linken Ohr herumzunesteln, hing ein goldenes Kreuz daran.
Holland starrte den Ohrring an. Er erinnerte ihn an etwas. An etwas Wichtiges.
Parsons winkte die Gruppe heran. »Wir reden mit allen, die gesehen haben könnten, was letzten Freitagnachmittag mit Luke Mullen geschehen ist.«
Heftiges Schulterzucken und Füßescharren. Mehr als ein Augenpaar richtete sich auf den Jungen mit dem Ohrring.
»Das müsste um die Zeit gewesen sein, als ihr aus der Schule gekommen seid«, sagte Parsons. »Vielleicht hat einer von euch gesehen, wie Luke Mullen in ein Auto stieg.«
Es dauerte etwas, bis die Antworten bruchstückhaft auf sie einprasselten.
»Eine Menge Kids steigen in Autos ein …«
»Ich hab letzten Freitag Rugby gespielt …«
»Da war noch ein Meeting wegen der Skiferien im nächsten Jahr …«
»Ich denke nicht, dass wir Ihnen weiterhelfen können.«
Der Junge mit dem Ohrring hatte als Letzter geantwortet. Er sprach mit diesem seltsamen amerikanisch-englischen Akzent, der Holland schon bei mehreren Schülern aufgefallen war: Die Satzmelodie ging nach oben, als wäre jede Frage nett und einfach zu beantworten, da man ja Bescheid wusste. Der Junge hatte das Wort für die anderen drei ergriffen, und Holland entging nicht, dass diese froh darüber waren. Jeder wollte in seiner Nähe sein, jeder ahmte ihn nach. Sie suchten seine Freundschaft. Holland dachte an den Jungen mit der Aktentasche, der kleine Künstler, mit dem sie zuvor gesprochen hatten. Dieser Junge war all das, was der andere nicht war und sich wahrscheinlich sehnlichst wünschte.
Wenn er ehrlich war, war Holland wie keiner der beiden gewesen. Er hatte sich vor zwanzig Jahren, in der Secondary School in Kingston, zwischen diesen beiden Extremen eher so durchgemogelt. Kopf nach unten, unglücklich und unauffällig.
Die vier machten sich bereits auf den Weg, aber Kenny Parsons eilte ihnen nach, überholte sie und trat ihnen in den Weg. »Moment, Jungs. Wir sind noch nicht fertig.«
»Ach ja?«, fragte der Junge mit dem Ohrring.
»Ein Freund von euch wird vermisst.«
»Ich kenn ihn kaum.« Einer der Jungen lachte. Ein Blick des Jungen mit dem Ohrring brachte ihn sofort zum Verstummen.
»Ihr seid nicht in derselben Klasse?«
»Richtig. Wir sind nicht in derselben Klasse.«
»Im selben Jahrgang?«
»Ebenfalls richtig. Aber ich kapier nicht, was Ihnen das bringt.« Er warf sich die Tasche über die Schulter und machte sich auf den Weg zur Hauptstraße.
Holland sah dem Jungen und seinen Freunden nach. Irgendwie kam ihm der Junge bekannt vor. Es war sein Gesicht. Und es war wichtig. Wie er mit Parsons gesprochen hatte. Wie er ihn angesehen hatte.
Einen schwarzen Polizeibeamten …
»Kleiner unverschämter Scheißkerl«, sagte Parsons.
Es war wie ein Schlag in die Magengrube, dasselbe Gefühl, als wenn man über eine Bodenwelle fährt, als es Holland wie Schuppen von den Augen fiel. Das Kreuz am Ohr. Das Gesicht, das er von irgendwoher kannte.
»Ich hab gedacht, diese stinkreichen Schnösel hätten bessere Manieren.«
Holland nickte. Genau das war der Punkt. Und wenn er recht hatte, traf »unverschämt« es nicht annähernd.
Der Junge mit dem Ohrring konnte sich Selbstsicherheit leisten. Sie ging einher mit seiner Uniform und dem Akzent, klar, aber sie ging auch damit einher, dass die meisten Leute den Charakter nach Aussehen, Auftreten und Akzent beurteilten. Für die meisten zählte dieser erste äußere Eindruck.
Holland angelte sich den nächsten Jungen, der vorbeikam, und fragte ihn nach dem Burschen mit den zerzausten Haaren. Dann sah er, wie sich der Junge namens Adrian Farrell zu ihnen umwandte und
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