Tom Thorne 06 - Die Geliebte des Mörders
müsste.
Auch Thorne stand auf. Er deutete mit dem Kopf zur Tür. »Gut, dass ihr alle so … eng zusammenhaltet. In einer Zeit wie dieser, weißt du?«
Juliet Mullen nickte und schob sich die Haare hinter die Ohren.
»Worüber haben sie denn gestritten?« Thorne ging wieder zum Schreibtisch und betrachtete das Foto an der Korkwand darüber: Luke auf den Schultern seines Vaters, die Augen hinter der orangen Schwimmbrille weit aufgerissen. Beide grinsten wie Idioten, und die Sonne tanzte auf dem Wasser um sie. »Luke und dein Dad, am Freitagmorgen.«
»Irgendeinen Blödsinn wegen der Schule.«
»Hausaufgaben oder Noten?«
»Dass Luke nicht im Rugbyteam ist oder so was. Keine große Sache.«
»Dein Dad scheint das anders zu sehen.«
»Aber nur wegen dem, was danach passiert ist. Weil er Schuldgefühle hat. Weil er und Luke sich angebrüllt haben, als er ihn das letzte Mal gesehen hat.« Sie ging zum Bett und strich es an der Stelle glatt, wo Thorne gesessen hatte. »Luke hat es schon auf dem Weg zur Schule leid getan. Er hat mir gesagt, er entschuldigt sich, wenn wir heimkommen. Dass es seine Schuld war, weil er sich im Ton vergriffen hat oder was weiß ich.«
»War es das?«
»Keine Ahnung. Ich hab’s schon vergessen. Es war nur so blöd, weil die beiden sich normalerweise nie streiten, wissen Sie? Die hängen echt aneinander. Diese Vater-Sohn-Kiste eben?« Es klang beinahe wie eine Frage, als wolle sie ganz sicher gehen, dass Thorne sie versteht.
»Okay.«
»Bis später dann.«
Thorne sah ihr nach, als sie ging. Er verstand genau, was sie gemeint hatte, und wichtiger noch, er wusste jetzt auch, was ihn an dem Video gestört hatte.
Was es war, was Luke gesagt hatte … oder nicht gesagt hatte.
Er ging zur Tür, blieb jedoch stehen, als er entdeckte, dass das Poster neben der Tür sich an der Ecke gelöst hatte. Als er es wieder zurechtdrücken wollte, fiel sein Blick auf die Worte darunter. Er starrte auf die kleinen, sauber mit schwarzer Tinte auf die Tapete geschriebenen Worte. Eine heftige und geheime Litanei der Frustration oder Wut.
Fuck off!
Fuck off!
Fuck off!
Holland war von der Schule aus direkt zu Central 3000 gefahren und hatte sich dort einen etwas abseits gelegenen Schreibtisch gesucht. Er brauchte zehn oder fünfzehn Minuten, um seine Gedanken zu sammeln, sich in das Police-National-Computersystem einzuloggen und das relevante Material durchzusehen. Erst als er beides getan hatte und sich sicher war, auf etwas gestoßen zu sein, wie er es unter diesen Umständen sein konnte, rief er im Becke House an und sprach mit Yvonne Kitson.
»Wie läuft’s mit Ihrem Kidnapping, Dave?«
»Prima.«
»Fehlen wir Ihnen?«
»Hören Sie, Chef, ich muss mit Ihnen über den Mord an Amin Latif sprechen.«
Es war etwas mehr als sechs Monate her, dass ein achtzehnjähriger Maschinenbaustudent pakistanischer Herkunft von drei weißen Jugendlichen an einer Bushaltestelle in Edgware totgeprügelt worden war. Die Ermittlung war mit großem Einsatz geführt worden, aber trotz der Medienpräsenz, des Aufwandes und sogar eines Zeugen, der eine detaillierte Beschreibung des Haupttäters gegeben hatte, war der Fall schnell kalt geworden.
Kalt, aber nicht vergessen. Dazu ging er zu sehr unter die Haut.
Russell Brigstocke hatte den Fall offiziell geleitet, aber um das normale Tagesgeschäft hatte sich Yvonne Kitson gekümmert. Praktisch war es ihr Fall – und zumindest was sie anging – auch ihr Versagen. Sie hatte von dem Augenblick an gewusst, als sie die Leiche des Jungen sah – eine blutige Hand in einer Lache über zwei gelben Linien –, dass sie diesen Fall niemals vergessen würde, egal ob sie die Mörder fasste. Aus Hass verübte Verbrechen hatten diesen Effekt. Und der Mord an Amin Latif zeugte von tiefstem Hass.
Holland hatte im Handumdrehen ihre Aufmerksamkeit.
Er erzählte ihr, er habe einen siebzehnjährigen Jungen gesehen, mit ihm gesprochen, dessen Ähnlichkeit mit dem Hauptverdächtigen in diesem Mordfall einfach zu groß war, um ignoriert werden zu können. Als er den Jungen beschrieb, den er und Parsons vor ein, zwei Stunden gesprochen hatten, betrachtete er das Bild, das er im PNC aufgerufen und ausgedruckt hatte. Das elektronische Fahndungsfoto war nach der Beschreibung eines Freundes von Amin Latif erstellt worden, ein Kommilitone, der bei dem Überfall dabei gewesen, aber mit ein paar gebrochenen Knochen und sechs Monaten Albträumen davongekommen war. Das Bild entsprach
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