Tom Thorne 07 - Das Blut der Opfer
das letzte Mal, als er ihm so nahe war, war Thorne von oben bis unten mit Blut bespritzt und schrie aus Leibeskräften. Ein Schulhof in Harrow. Vor Thornes Füßen lag ein Toter und ein paar Meter entfernt eine im Sterben liegende Frau, eine Polizistin. Und er konnte nichts dagegen tun. »Gratulation, Sie leben noch«, hatte Nicklin gesagt und gegrinst. »Am Leben zu bleiben ist allerdings der einfachere Teil, stimmt’s? Sich lebendig zu fühlen, das ist schwer …«
Daraufhin hatte Thorne zugeschlagen und zugesehen, wie Stuart Nicklin Zähne und Blut ausspuckte, als er abgeführt wurde.
Und noch breiter grinste.
Der Winter damals war mild gewesen und entsetzlich. Nicklin hatte mindestens vier Menschen umgebracht - drei junge Frauen und einen alten Mann - und war darüber hinaus für genauso viele Morde direkt verantwortlich. Eines der Opfer hatte auf sein Betreiben hin zwei Frauen umgebracht. Zwei Morde, die der Mann nur deshalb beging, weil er leicht zu manipulieren war und zu große Angst hatte, sich seinem Peiniger zu verweigern.
Nicklin hatte früh gelernt, dass Angst die mächtigste Waffe von allen ist. Er handhabte sie so geschickt wie ein Schlachter das Messer und mit der tödlichen Treffsicherheit des Scharfschützen der Met, der Palmer vor fünf Jahren auf dem Schulhof erschoss.
Die Zugfahrt nach Evesham dauerte knappe zwei Stunden, dazu kamen fünfzehn Minuten mit dem Taxi vom Bahnhof zum Gefängnis. Thorne hatte auf der ganzen Fahrt nichts gegessen, und jetzt, da er sich Nicklins breitem, verjüngtem Grinsen gegenübersah, war er froh, das Gefühl im Bauch seinem leeren Magen zuschreiben zu können.
»Eigentlich müsste ich in einem Drehstuhl sitzen«, sagte Nicklin. »Und eine weiße Katze streicheln.«
»Das hier muss reichen.«
»Um ehrlich zu sein, ich hab Sie früher erwartet.«
»Ich hab das erste Foto erst vor vier Tagen erhalten.«
»Oh, dann nehm ich das zurück. Tut mir leid.«
»Davon gehe ich aus.«
Nicklin nickte selbstzufrieden. »Ich hab Marcus gesagt, Sie sind der richtige Mann für den Job.«
Im HMP Long Lartin in Worcestershire waren etwa sechshundert der gefährlichsten Häftlinge des Landes untergebracht, eine Kategorie, in die Stuart Nicklin zweifelsohne gehörte. Thorne würde nie das Gesicht eines Jungen namens Charlie Garner vergessen. Ein Junge, der gezwungen wurde, dabei zuzusehen, wie seine Mutter erdrosselt wurde, und zwei Tage mit ihrer Leiche eingesperrt war. Allein, hungrig, schmutzig und schluchzend.
Thorne sah zu Nicklin, der ihm gegenüber hinter einem polierten, etwas ramponierten Tisch saß. Er trug Jeans und Sportschuhe. Und ein dunkelblaues Lätzchen über einem hellgrauen Sweatshirt.
So sah kein Monster aus.
Doch die Leser der Daily Mail und ihre Gesinnungsgenossen verteufelten Leute wie Stuart Nicklin. Und so gut dieses Wort beschrieb, was sie getan hatten, so schwer fiel es Thorne zu glauben, dass die Täter selbst ihrem Wesen nach böse waren. Das hieße, dass andere gut wären. Wieder so ein Konzept, das Thorne etwas schwierig fand und das der Diskussion einen religiösen Tenor verlieh, bei dem ihm sehr mulmig wurde.
Nicklin war ein Mensch, kein Monster …
»Haben Sie schon gegessen?«, fragte Nicklin. Thorne schüttelte den Kopf. »War sehr gut heute.« Er strich sich über den Bauch. »Die Pfunde bleiben natürlich hängen, aber ich bin wirklich nicht der Typ für stundenlangen Workout.«
Nur zu gern würde er diesen Mann im Gefängnis sterben sehen.
Gestern Abend im Pub hatte Lilley erzählt, dass sie auf ein paar Typen, die sie hinter Gitter gebracht hatte, noch immer ein Auge hatte, beobachtete, wie es ihnen in dem System ging. Dasselbe galt für Thorne. Und auf seiner Gott sei Dank kurzen Liste nahm Nicklin den ersten Rang ein.
»Warum schickt er mir die Fotos?«
Nicklin spielte den Verdutzten. »Verdammt. Sie wollen doch keine Zeit verschwenden?« Seine Stimme war ruhiger, als Thorne sie in Erinnerung hatte, und heiserer. Wahrscheinlich war Nicklin ein starker Raucher, so wie die meisten Knastbrüder. »Und die Dinge laufen lassen?«
»Sie sind nicht so faszinierend, wie Sie glauben«, sagte Thorne. »Und ich langweile mich schnell. Warum bekomme ich diese Fotos?«
Nicklin hob die Hand und rieb sich ein paar Sekunden die Nase. »Damit tut mir jemand einen Gefallen«, sagte er.
Thorne versuchte, sich mit keiner Miene zu verraten. »Warum ist Ihnen Marcus Brooks einen Gefallen schuldig?«
»Man könnte es wohl so ausdrücken: Ich
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