Tonio
gebraucht).
Je näher die Auslieferung der Nachmittagszeitungen rückte, desto öfter ging ich unruhig auf den Flur, um die Treppe entlang in die Diele hinunterzuschauen, ob sie unter der Briefklappe auf der Matte lagen. Was erwartete ich darin? Die Wahrheit, in Form einer Todesanzeige? Mußte auf der Seite mit den Familienanzeigen eine Vermutung bestätigt werden?
»Bei diesem ganzen modernen Kommunikationskram«, sagte ich, wieder zurück im Wohnzimmer, »bei diesen Mobiltelefonen … E-Mailadressen … dem Internet, was weiß ich noch allem. Facebook, Hyves, und so weiter und so fort. Twitter … Irgend jemand muß dieses Mädchen doch ausfindig machen können.«
»Auf Tonios Mailbox hat sie was von Facebook gesagt«, meinte Mirjam. »Wahrscheinlich haben sie da miteinander gechattet.«
»Ihr habt Polaroids von ihr erwähnt«, sagte Jonas. »Wenn wir jetzt so ein Polaroidfoto auf Facebook stellen und dann Tonios Facebookfreunden zeigen … Vielleicht ist sie dabei.«
»Das Witzige an Tonio ist«, sagte ich, »daß er sogar diesePolaroids mitgenommen hat … oder weggeworfen, es seien nur Proben, hat er gesagt.«
Jim bot an, in Tonios Zimmer nach den Polaroids zu suchen. Währenddessen sollte Jonas versuchen, in einem Aufruf bei Facebook (»Welches ungefähr zwanzigjährige Mädchen, Name unbekannt, hat sich von Tonio van der Heijden am Donnerstag, dem 20. Mai 2010, fotografieren lassen?«) ihre Identität herauszubekommen.
Mirjam erinnerte mich an meine anfängliche Zurückhaltung. »Du hast jetzt was getrunken«, sagte sie, »aber gestern noch wolltest du es lieber auf sich beruhen lassen. Wir haben uns gefragt, ob wir das wirklich wollen, ihre Identität ermitteln und so. Angenommen, wir finden heraus, daß es ernst war mit den beiden … oder daß es ernst hätte werden können … Wird uns das dann nicht für den Rest unseres Lebens quälen … ja, was eigentlich? Eine Liebe für Tonio. Vielleicht sogar eine künftige Schwiegertochter. Die Mutter unserer Enkel … Ich weiß nicht, ob mir solche Überlegungen recht sind. Ich habe sie sonst nie angestellt, wenn ich Tonio mit einem Mädchen gesehen habe. Das führt doch alles zu nichts. Na ja, wohin alle Wege führen. Zu Tonios Grab.«
Die verbliebenen Gäste saßen still da.
»Mirjam«, sagte ich, »wir müssen auch an Tonio denken. Ich erinnere mich, wie stolz er uns die Polaroids gezeigt hat … sein Grinsen, als ich sagte, das sei aber ein hübsches Mädchen. Er hat erzählt, daß sie ihn ins Paradiso eingeladen hat. So was hat er sonst nie erzählt. Oder? Da war eindeutig mehr im Spiel. Natürlich wollte er, daß seine Eltern sie kennenlernen. Ich wette, er fand es schade, daß sie schon weg war, als wir aus dem Amsterdamse Bos zurückkamen. Minchen, wir müssen in Tonios Sinn handeln. Wenn er sie uns nicht mehr vorstellen kann, müssen wir sie ausfindig machen.«
»Ich denke«, sagte Mirjam, »das alles wird nur noch mehr weh tun.«
»Und wenn ich jetzt meine, daß wir dem Schmerz nicht aus dem Weg gehen dürfen?«
19
Immer wenn Mirjam ins Zimmer kommt, betrachte ich froh die vertraute Erscheinung. Noch immer, nach all den Jahren, durchzuckt es mich angenehm: da ist sie. Seit Pfingsten ist es, als sähe ich doppelt. Es ist meine Frau, die da über die Schwelle tritt, und zugleich, nicht ganz deckungsgleich, ist es eine ihres Kindes beraubte Mutter. Die zweite Gestalt fügt sich nicht ganz in die Umrißlinien der ersten, sosehr ich auch blinzle.
Samstagmorgen. Früher als das verkaterte Gefühl war das ekelerregende Bewußtsein da: Ich habe gestern meinen Sohn beerdigt . Am Tag zuvor hatte ich gesehen, wie der Sarg mit dem Leichnam meines Sohnes in eine Grube sank, und ich hatte nicht geweint, und danach hatte ich mich fürchterlich besoffen. Ich wußte nicht einmal, wie der Nachmittag zu Ende gegangen war, geschweige denn der Abend.
Gleich nachdem ich, wegen des grellen Lichts fluchend, die Vorhänge aufgezogen hatte, trat die Zwiegestalt Mirjam herein: die Mutter meines Kindes und die ihres Kindes beraubte Mutter. Ein Auge gegen dieses Doppelbild zuzukneifen half nichts. Sie sah traurig aus, ängstlich, unsicher. Ich ging zu ihr, legte ihr die Hände auf die Schultern. »Was ist?«
»Du hast mich gestern abend fürchterlich angefahren.«
»Ich kann mich an nichts erinnern.« So war das bei Wodka, einem Getränk, das nicht nur Kopfschmerzen verhinderte, sondern sicherheitshalber auch das Kurzzeitgedächtnis ausschaltete,
Weitere Kostenlose Bücher