Tonio
Held.«
»Wenn ich zurückdenke«, sage ich, »dann hat Tonio seine Eltern nie beschimpft. Vielleicht auf sie geschimpft, später, außer Hörweite. Aber geschimpft, dich oder mich beschimpft … richtig ausgeschimpft … nein. Nie.«
»Ich habe mich immer gehütet«, sagt Mirjam, »auch wenn es mir manchmal schwergefallen ist, Tonio gegenüber etwas Böses über dich zu sagen. Ich wollte nicht, daß er so etwas gegen dich verwenden könnte. Und ich weiß genau, du hast es genauso gehalten. Wenn ich von Rietje höre, was Bram ihr alles an den Kopf zu werfen wagt … die übelsten Schimpfworte … die hat er natürlich von seinem Vater.«
»Es ist nicht unser Verdienst«, sage ich. »Es ist Tonios Verdienst. Wenn ich in sein ehrliches Gesicht schaute, kam ich einfach nicht auf die Idee, mich ihm gegenüber über dich zu beklagen. Auch wenn es mir manchmal schwerfiel …«, füge ich dann auch hinzu. »Er war unparteiisch – bis er gezwungen wurde, einen von uns zu verteidigen. Wir lagen einmal sehr unbequem zu dritt in einem Hotelzimmer. In Jarnac … weißt du noch? Ich war da, um einen Artikel zu schreiben. Der Auftraggeber hatte uns das beste Hotel der Gegend versprochen. Wie sich herausstellte, traf das nicht zu. Ich lag in einem zu kleinen Bett und mäkelte am lausigen Komfort herum. Du hattest das telefonisch organisiert. Tonio lauschte der Diskussion aufmerksam. Erst als er kapiert hatte, daß der Auftraggeber uns aus der Entfernung reingelegt hatte, rief er mit aller Empörung, deren er fähig war: ›Aber Adri, dafür kann Mama doch nichts …!‹ Er war fünf, fast sechs. In einem Restaurant dort … ich denke, ein paar Tage später … hat Tonio dieses Doppelporträt von uns gemacht.« Ich deute mit dem Daumen auf die Wand am Kopfende. »Rote Herzen, die aus unseren Köpfen fliegen … Verliebte Eltern. Er wollte so gern, daß alles gut war zwischen uns.«
»Er war ein Vorbild für uns«, sagt Mirjam. »Wirklich, ohne Schwärmerei … er eher für uns als wir für ihn.«
22
Mirjam und Tonio sind meine Zeugen, daß ich immer versucht habe, sie zu beschützen. Natürlich scheiterte ich manchmal und sogar häufiger, als mir lieb war, wobei das Debakel von Loenen und das Wassenaarer Nachspiel den Tiefpunkt bildeten.
Was ich mir noch immer vorwerfe, heute mehr denn je, ist die unbekümmerte Gastfreundschaft, die ich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre entwickelte. Jeder war willkommen, ohne Ansehen der Person. Als Frischling in der niederländischen Literatur (ein in jenen Tagen offensichtlich noch ziemlich abgezirkeltes Gebiet), betrat ich einmal in Gesellschaft einer kleinen Gruppe von Zufallsbekannten den Künstlerclub Arti. Ich traf dort einen älteren Kollegen, der herablassend nickend in Richtung meines Tisches fragte: »Sind das deine Freunde?«
Mit einem leichten Naserümpfen gab er sich selbst die Antwort. Er wußte ganz genau, welche angesehenen und einflußreichen Personen er um sich versammeln mußte. In fortgeschrittenem Alter hat so einer natürlich gar keine Freunde mehr, sondern nur noch abgehalfterte Protektoren.
Die richtigen Freunde zu haben, darum bemühte ich mich nicht. Sie kamen, wie sie kamen. Die Folge war allerdings, daß jeder bei uns ein und aus ging, längst nicht immer in lauterer Absicht. Der eine beschnüffelte meine Ehe, der andere meine geschäftlichen Angelegenheiten, ein dritter meine aktuelle Arbeit. Tja, man wußte nie, wozu die so gewonnenen Erkenntnisse später mal nützen konnten. Und tatsächlich, fast zwanzig Jahre nachdem ich begonnen hatte, größere Distanz zu wahren, lese ich noch regelmäßig in Interviews mit einigen Kollegen von damals, wie es auf meinen Feten zuging und daß man mich gelegentlich (na, na) betrunken in ein Taxi setzen mußte.
Ich gönne jedem seinen Beitrag zur petite histoire der niederländischen Literatur, auch wenn er sie nicht vor dem Verschwinden bewahren wird, doch von meiner kleinen Familie haben sie die Finger zu lassen. In Der Anwalt der Hähne kommt eine Passage vor, in der erzählt wird, daß die Hauptfigur Quispel gelegentlich seine Frau schlägt, wie der Mann überhaupt so einige Besonderheiten aufweist. Aha! dachte einer der Rumschnüffler, der sich als Freund geriert hatte: da hab ich ihn, er gibt es selbst zu. Der Rest war eine Sache des hartnäckigen Weitererzählens samt authentisch anmutender Details, man ging schließlich nicht umsonst bei so einem miesen Kerl ein und aus.
Ich bin mit dieser Großtat im
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