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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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darunter.
    Bevor M. Tonio in die Schule bringt, bekomme ich ein karges Frühstück aus Vollkornbrot und ungezuckerter Marmelade (ohne Butter) plus dem empfohlenen dünnen Cappuccino. Als M. wieder zurück ist, gebe ich ihr die versprochenen Tips für die »Urbuch«-Ausgabe der Literaturzeitschrift Maatstaf (Mallarmé, Proust, Genet, Mulisch, Reve etc.).
    Ein solcher Umbau hat seine Vorteile. Ich verbringe halbe Tage in den Espressobars der Innenstadt, nach Lust und Laune lesend und kritzelnd.
     […]
    15.30 Linie 24 zurück nach Zuid. Steige in der Beethovenstraat aus und spaziere über Apollo, Hilton, Christie‘s nach Hause. Vor der Tür treffe ich Ronald Sales, der das Porträt abliefern will, das er vor ein paar Jahren von mir gemacht hat. Wir stellen es drinnen ab und beschließen, meinen Ankauf im Vondelpark zu feiern. Tonio fragt, ob er mitdarf, und schnallt sich seine neuen Rollerskates an (die er mir von dem Gouden-Uil-Preisgeld abgeschwatzt hat. Ich habe bisher nicht von der Preisverleihung berichtet, die ich einfachdaheim, vor dem Fernseher, ausgesessen habe. Tonio war völlig aus dem Häuschen: daß so was möglich ist, sein Vater bekommt einen Preis auf dem Bildschirm, während er neben ihm auf dem Sofa sitzt. Als ich am Telefon Fragen der Moderatorin beantwortete, konnte ich sie fast nicht verstehen, so unbändig johlend rannte Tonio durchs Zimmer. »Dies ist der schönste Abend unseres Lebens …!«)
    Er läuft laut schrappend vor uns her, durch die Corn. Schuyt und den Willemspark hinüber zum Vondel, wobei er sich ab und zu umdreht, um zu schauen, ob wir auch angemessen weit zurückhängen. Verbotenes Bier auf der Terrasse des Filmmuseums. Tonio fährt beinahe den Verleger und Gastronomietycoon Bas L. um.  […]
    18.00 Uhr wieder zu Hause. Tonio gibt zu erkennen, daß er es schön findet, daß ich heute abend mitesse – was vor allem in letzter Zeit, sagen wir mal: wegen des Umbauchaos, häufiger unterblieben ist. Als ich M., die in der Küche mit dem Essen beschäftigt ist, gestehe, daß ich mit R. Bier getrunken habe, sinkt ihre Laune in den Keller. »Und deine Diät? Wohlgemerkt, wegen dieser Diät wolltest du Freitagabend nicht mit mir ausgehen.«
    Sie hat natürlich recht, aber das hindert mich nicht, in die Verteidigung zu gehen. Wegen der Streiterei, die in endlose Haarspaltereien ausufert, lassen wir uns das herrliche Hühnergericht nicht richtig (oder gar nicht) schmecken. Ich merke, daß unser Gemecker und Gekabbel Tonio zu schaffen macht. Als M. zu weinen beginnt, zittert seine Unterlippe mit ihren Schluchzern mit.
    »Darf ich die Tafel verlassen?« (Ich weiß noch immer nicht, woher er diese Höflichkeitsphrase hat.)
    »Wozu?«
    »Um Camiel zu fragen, ob er zum Spielen rauskommt.«
    Er läßt sein Huhn unangerührt stehen und läuft die Treppe hinunter zu dem Jungen zwei Häuser weiter. Man liest immer, daß Sportler einen Stoff im Gehirn produzieren, infolge dessen sie bessere Leistungen erbringen, stärker werden, länger durchhalten. So ein Stoff, in etwas anderer Zusammensetzung, muß auch im Gehirn zankender Menschen produziert werden: Sie ermüden einander mit ihren falschen Argumenten, und das immer weiter, bis über alle Grenzen der Würde hinaus.
    Als Tonio zurückkommt, trinken wir Kaffee – im Schlafzimmer, in dem wegen des Umbaus vorübergehend der Fernseher steht. Er blickt ernst in die Gesichter seiner Eltern. Wenn er etwas Feierliches zu sagen hat, senkt er seine Stimme um eine Oktave. So auch jetzt.
    »Na, alles wieder klar mit euch?«
21
     
    Als Tonio noch klein war, prallten manchmal zwei Gedanken aufeinander: wenn mir bewußt wurde, wie nachlässig ich mich Tonio gegenüber verhalten hatte, während ich gleichzeitig erkannte, wie tapfer und ohne irgendeinen Vorwurf er jede Situation ertragen hatte, in der sein Vater versagt hatte.
    Eine solche Gedankenkollision konnte mich vollständig lähmen. Wie ein Schulkind, das Strafe verdient hat, taperte ich dann in eine Ecke meines Arbeitszimmers, um dort ein paarmal eindringlich zu flüstern: »Mein tapferes Jungchen.«
    Das half – bis zur nächsten Nachlässigkeit, durch die Tonio sich, ebenfalls ohne Groll, durchschlug.
    Jetzt, da ich versäumt habe, ihn vor dem tödlichen Unfall zu bewahren, und er sich zum erstenmal nicht hat retten können, kann ich mit meiner heimlichen Liebeserklärung, die nie für seine Ohren bestimmt war, gar nicht mehr aufhören. »Mein liebes, tapferes Jungchen. Mein kleiner

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