Tonio
vielleicht um Erinnerungen zu löschen, die im nachhinein noch für Kopfschmerzen sorgen könnten. »Weswegen?«
»Alle waren weg, und ich wollte ins Bett. Du nicht. Duwolltest reden. Ich nicht. Ich konnte nicht mehr. Und dann fingst du an … böse … ich würde nur an mich denken.«
»Ach, Minchen.« Ich zog sie an mich. »Ich war böse, ja, aber nicht auf dich. Auf das, was passiert ist. Auf alles, was schuld an dieser Misere ist.«
Sie schien bereits ein wenig beruhigt. »Du warst schon am Nachmittag böse«, sagte sie, »als die Zeitungen kamen. Tonios Namen fettgedruckt in einer Todesanzeige zu sehen … das hat dich wütend gemacht. Du hast die Zeitungen voller Zorn durchs Zimmer geschmissen.«
Ja, jetzt erinnerte ich mich, wie falsch idyllisch das Sonnenlicht am späteren Nachmittag im Zimmer gelegen hatte und wie sich die Schatten der Baumblätter über die Vitrine mit Tonios Steinsammlung bewegt hatten, aus der sein Liebling hervorleuchtete, der Lapislazuli. Und ich, der wutentbrannt die Abendzeitungen durchs Zimmer pfefferte.
Mirjam ging, um Frühstück zu machen. Sie kam ins Schlafzimmer zurück mit dem Tablett, de Volkskrant und einem großen Stapel Kondolenzpost. Mehr Todesanzeigen für Tonio, doch diesmal machte mich sein fettgedruckter Name nicht wütend, dafür waren die Nachrichten darum herum zu unglaubwürdig, zu absurd – doch zu lachen gab es auch nichts.
Nebeneinander im Bett, aufrecht in den Kissen sitzend, und dann gemeinsam alle diese geschockten Beileidsbezeigungen lesen … Ein schlechtes Theaterstück. Eine reißerische Fortsetzung von Who‘s afraid of Virginia Woolf , mit George und Martha im Ehebett, wie sie einander die Trauerbekundungen reichen, die nach dem tödlichen Unfall ihres zwanzigjährigen Sohnes eingehen, den sie selbst erfunden haben.
Ich hatte Mirjam um eine getoastete Brotrinde mit Marmelade gebeten, aber selbst die bekam ich nicht hinunter. Dazu dünnen Kaffee mit sehr viel Milch, doch den vertrug mein Magen nicht. Die einzigen Organe, in die die würgendeWahrheit durchdringen wollte, waren meine Därme. Das zu Pfingsten begonnene anale Erbrechen hielt nun schon eine Woche an.
20
Was den Todesekel um Tonio am stärksten nährt, ist die Gesamterinnerung an all unser sinnloses Gekabbel in seinem Beisein. Anlaß, Entwicklung, Heftigkeitsgrad, Abwicklung, Versöhnung – es ist alles vergessen, versickert in den Falten der Zeit. Im Moment selbst waren die Uneinigkeit zwischen uns sowie das jeweils höchstpersönliche Rechthaben lebenswichtig – auch für den ohnmächtig zuhörenden drei-, fünf-, acht-, elf-, dreizehnjährigen Tonio. Bis auf einige in verschiedenen Varianten wiederkehrende Streitereien, die sogenannten »Klassiker«, ist uns nichts im Gedächtnis haftengeblieben – und was Tonio betrifft, können wir nur noch mutmaßen, wie einschneidend sie auf ihn gewirkt haben.
Das stumpfsinnige Gezanke, das jede Ehe, nicht unbedingt nur die schlechteste, anscheinend begleiten muß. Die verstümmelten Argumente. Das Rechthaben um des Rechthabens willen, wie ein l‘art pour l‘art . Das Lautwerden, mit oder ohne Speicheldusche. Retourkutschen auf Schulkinderniveau.
(Tagebuchnotiz Dienstag, 8. April 1997)
08.00 Uhr aufgewacht von vertrauten Geräuschen aus dem Badezimmer. Vertrauliches Gemurmel zwischen Mutter und Sohn. Schlaf zieht mich wieder hinunter bis tief in die alte, brüchige Matratze (die dringend ausgetauscht werden muß), doch ich beschließe, den Zeitpunkt des Wachwerdens als Zeichen zu betrachten: Nach den seit kurzem geltenden, modifizierten Essensgewohnheiten soll ich jetzt zwischen acht und neun frühstücken.
Ich öffne die Tür zum Badezimmer: M. sitzt auf dem heruntergeklappten Toilettendeckel und kämmt Tonios Haare. Er sieht überrascht lachend zu mir auf. (»Du hast deinen eigenen Rekord gebrochen«, sagte er neulich, als ich auch einmal so früh aufstand.)
Ich sage: »Behalte deine witzigen Bemerkungen über gebrochene Rekorde und so heute für dich, okay?«
Er zieht seinen zerknautschten Zitronenmund, als fühle er sich ernsthaft zurechtgewiesen, doch in seinen hellbraunen Augen funkelt Spott. Ich hebe unten im Haus die Zeitung von der Türmatte auf und nehme sie mit ins Bett. Die Arbeiter haben im Wohnzimmer mit dem elektrischen Schleifen angefangen. (Im Mai ist mein Arbeitszimmer dran.) Alles im Haus überzieht sich langsam mit einer dünnen Schicht rotzgrünen Puders von der alten Farbschicht und dem Holz direkt
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