Tonio
lag.
»Etwas Vorübergehendes, ja«, sagte ich. »Das ist der Streich, den das schlummernde Bewußtsein einem spielt. Plötzlich schreckt man hoch, gestochen vom Stachel der … ich muß plötzlich an diese Riesenwespen in der Dordogne denken. Wieviel Angst wir hatten, unser kleiner Tonio könnte gestochen werden. Wenn man eine mittendurch hackte, lebten die beiden Hälften einfach weiter.«
»Vom Stachel der Wahrheit, wolltest du sagen …«
»So was Ähnliches.«
»Meiner Meinung nach«, sagte Mirjam, »schlummert das Bewußtsein den größten Teil der Zeit. Aus Selbstschutz, denke ich. Mehr als ab und an einen Stoß Wahrheit … so einer Wahrheit … das hält man doch nicht aus, oder?«
Ich nahm ihre Hand aus der Kuhle, die sie in die Zeitung gedrückt hatte.
»Früher oder später«, sagte ich, »muß natürlich ein Stein aufs Grab.«
»Ich möchte lieber nicht daran denken. Nicht jetzt.«
»Nur das noch … dann hör ich auf. Es ist vielleicht eine gute Gelegenheit … nein, laß nur. Ein andermal.«
24
Es ist jetzt eine Woche her. Ich wate durch einen trüben Kummer, von dem ich weiß, daß ich ihn nie überwinden werde, aber daß ich am Sonntag im AMC Tonios Sterben habe ertragen können, ohne selbst auf der Stelle zu sterben oder mich aus welchem Stockwerk auch immer hinunterzustürzen, erstaunt mich noch immer oder, besser gesagt: jeden Tag mehr.
Wie habe ich diesen Tag mit seiner Häufung immer schlechterer Nachrichten überhaupt überstanden? Ich, der ich Briefe mit einer möglicherweise unangenehmen Nachricht oft ungeöffnet lasse.
Die Ankündigung am Morgen, daß Tonio »in kritischem Zustand« auf dem OP -Tisch liege, sorgte für einen nie zuvor erlebten Schrecken, doch den ganzen Nachmittag über blieb Raum für das Signal »außer Lebensgefahr«. Nachdem wir auf der Intensivstation in dieses kleine Wartezimmer gesteckt worden waren, entfaltete sich eine Dialektik (zwischen Hoffnung und Angst, Leben und Tod, Mirjam und mir, uns und dem Chirurgen), die uns Schritt für Schritt, in einer Schlingerbewegung wie auf einem Schiff, auf das vorbereitete, was man das Unvermeidliche nennt. In dem ganzen Prozeß verbarg sich eine Art betäubender Logik – einer Logik, die dem Wahnsinn knapp voraus blieb und das Resultat gerade so eben erträglich machte.
Das Erscheinen der Neurochirurgin, direkt aus dem OP , die bläuliche Duschhaube auf dem Kopf, bedeutete keine pechschwarze Antithese zu unserer letzten hoffnungsvollen Erwartung, sondern eine konsequente Synthese der Bewegung zwischen Hoffnung und Angst, wie wir sie den ganzen Tag über erlebt hatten. Sie schüttelte den Kopf, wobei die Plastikkappe etwas weiter hochkroch. Tonio war noch nicht gestorben, hatte aber keine Chance zu überleben. Er schwebte, wie man so sagt, zwischen Leben und Tod.
Nach dem Unbegreiflichen, das in der späten Nacht vorgefallen war, schienen die aufeinanderfolgenden Abwicklungsschritte, bei Tageslicht besehen, fast zu logisch, ohne daß von seiten des Krankenhauses eine solche Logik gesucht worden wäre. Wie dem auch sei, ruhige Dialektik und unnachdrückliche Logik sorgten dafür, daß wir Tonios Sterbebett in dem improvisierten Zelt auf der Intensivstation überleben konnten.
Es verhinderte nicht, daß wir beide, jeder auf seine Art, nach dem Verlassen des Krankenhauses in einen chaotischen Strudel widersprüchlicher Gefühle gesogen wurden, der nicht zur Ruhe zu bringen war, geschweige denn irgendeine logische Ordnung zuließ.
Man würde doch meinen, daß ich seit voriger Woche jeden Brief unerschrocken öffnen kann und bei Unglücksnachrichten oder roten Zahlen nicht einmal mehr mit den Wimpern zucke. Die denkbar schrecklichste Nachricht, von Tonios Tod, wird mich doch wohl dagegen gefeit haben?
Nichts ist weniger wahr.
Über weite Strecken des Tages hinweg durchläuft mich ein inneres nervöses Zittern, das mir klarmachen zu wollen scheint, daß das Schlimmste noch bevorsteht . Als wäre Tonios Sterben erst die Ankündigung dieses »Schlimmsten«. Diese Vorstellung muß unweigerlich zum Refrain dieses Requiems werden.
Ich möchte das Ganz Schlimme nicht kennen. Ich lasse den Brief ungeöffnet. Das nervöse Zittern hält unvermindert an. Was aber, in Gottes Namen, kann noch schlimmer sein als Tonios Tod?
Dies: die Wahrheit seines Todes. Daß sie demnächst, irgendwann, wirklich zu uns durchdringt. Dagegen spannen sich meine Nerven, auch im Namen von Mirjam.
Wir mußten herauszufinden versuchen,
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