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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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worin der beste Überlebensplan bestand – im Widerstand gegen den Schmerz oder in der Hingabe an ihn.
    Es gab also noch ein wenig Spielraum in unseren Wahlmöglichkeiten, doch die wichtigste Wahlfreiheit war dahin: Tonio war unwiderruflich tot und jetzt auch unwiderruflich begraben. Was immer wir mit den Schmerzen taten, das ließ sich nicht mehr leugnen oder umgehen. Wir saßen in der Falle.
25
     
    Am Ende des Beisammenseins nach der Beerdigung hatte mein Bruder unten in Mirjams Arbeitszimmer die Taxizentrale angerufen, wobei er das mitgenommene Glas Rotwein über ihre Tastatur verschüttet hatte: der erste einer langen Reihe von Computerzwischenfällen, in denen wir Tonios Hand zu erkennen meinten. Bei Störungen hatte er immer auf Abruf zur Verfügung gestanden, jetzt schien er auf Sabotage aus zu sein.
    Nachdem Frans das Taxi bestellt hatte, war sein Portemonnaie neben dem Telefon liegengeblieben. Das hatte zur Folge, daß er, am Ziel angelangt, dem Fahrer seine Uhr alsPfand geben mußte, um sich drinnen Geld von seiner Frau zu leihen, die schon früher nach Hause gefahren war, um den Babysitter abzulösen. Am Sonntagnachmittag kam er mit Mariska und dem Kleinen auf ein Stündchen vorbei, dann konnte er auch gleich sein Portemonnaie abholen und den eingetrockneten Wein zwischen den Tasten von Mirjams Computer wegkratzen. (Auch die Maus war in Mitleidenschaft gezogen.)
    Daniël, das einzige Kind, dem ich meinen Status als Onkel verdankte, hatte ich seit seinem ersten Geburtstag am 7. März nicht mehr gesehen. Er war natürlich gewachsen, und auch sein Gesicht war etwas stärker ausgeprägt. Mit seinem dünnen weißblonden Babyhaar glich er dem einjährigen Tonio, wie ich ihn von Marsalès in Erinnerung hatte, wenngleich Tonio damals üppigere Locken besaß. Auch Daniëls Gehversuche kamen mir in ihrer halsstarrigen Motorik bekannt vor. Tonio benutzte, um sich möglichst lange auf den Beinen halten zu können, seinen eigenen Buggy, den er beim Stürzen regelmäßig über sich zog. Daniël versuchte es bei uns im Wohnzimmer ohne Hilfsutensil und setzte sich öfter beim Fall auf den Hintern, wobei hörbar Luft aus seiner Pamper gepreßt wurde.
    Als ich von oben herunterkam, saß er auf dem Teppich. Vielleicht weil ich mich von hinten näherte und plötzlich neben ihm in die Hocke ging, begann er laut zu schreien. Nichts Besonderes, doch für mich war es wieder da: das Empfinden, als Vater eines soeben begrabenen Sohnes einen üblen Todesgeruch vor mir her zu schieben, von dem frische Kleinkinder absolut nichts wissen wollten.
    Er weinte nur kurz. Nachdem ich mich auf die Couch gesetzt hatte, suchte Daniël Annäherung. Über das Beistelltischchen schob er mir immer wieder seinen halbvollen Trinkbecher zu, den ich ihm dann wegnehmen sollte. Später versuchte er ein ums andere Mal, meinen Fuß auf dem Teppich zu verdrehen. Er mußte sehr lachen, unter reichlichemGesabber, wenn der Schuh wieder in die ursprüngliche Position schoß und noch ein wenig weiterwackelte.
    Was lag jetzt näher als der Neid? Mein Bruder hatte einen Sohn, ich hatte keinen mehr. Nein, ich spürte keinen Neid, nicht einmal einen Hauch davon, ich freute mich genauso über die späte Vaterschaft von Frans wie er sich selbst. Nur … ich las an Daniël Tonios Bemühungen ab. Von der Geburt auf den ersten Geburtstag zuwachsen und dann laufen und sprechen lernen, das war harte Arbeit, damit war man den ganzen Tag beschäftigt, eine hundertstündige Arbeitswoche lang. So hatte Tonio mit Wachsen und Lernen fast zweiundzwanzig Jahre seines Lebens vollendet – ohne dafür entsprechend belohnt zu werden.
    In der Euphorie rund um seine Geburt hatte ich mich zu Daniëls Mentor erklärt. Ich sah in seine blauen Augen, so voller selbstverständlichem Vertrauen darauf, mit der Zukunft werde schon alles klargehen. Insgeheim sprach ich meine guten Wünsche über ihn. Er saß schon wieder auf dem Teppich, um meinen Fuß irreparabel umzuknicken. Dani, ich wünsche dir ein Leben, fünfmal so lang wie das deines glücklosen Cousins. Vorläufig haben wir die Statistik auf unserer Seite, lieber Junge.
    Frans erzählte, er habe auf einer Website einen Nachruf auf Tonio gefunden, geschrieben von Serge van Duijnhoven, dazu verschiedene Porträtfotos. Sofort entstand wieder der Eindruck, alle Ereignisse der vergangenen Tage seien eine absurde Parodie. Serge van Duijnhoven ging als sechzehnjähriger Gymnasiast und poète maudit bereits bei uns ein und aus, als Tonio

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