Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
Vom Netzwerk:
Laufe der Jahre oft konfrontiert worden, manchmal in Form einer Frage, meist als feststehende Tatsache. Nicht Quispel schlug seine Frau, nein, ich. Der Dreisteste unter den Interviewern fing sogar mit der Feststellung an: »Es heißt immer, daß du deine Frau prügelst … erzähl doch mal etwas mehr darüber.«
    Mein erster Impuls war: rausschmeißen, den Arsch. (Einem Kollegen zufolge, mit dem ich mal darüber sprach, hatte der Interviewer sich eine Chance entgehen lassen. »Er hätte fragen müssen: ›Schlägst du deine Frau noch immer ?‹ Ob du mit ja oder nein antwortest … du kommst da nicht mehr raus.«) Doch bei näherer Überlegung schien mir das eine gute Gelegenheit zu sein, die Sache richtigzustellen: wie ein Gerücht, dessen Ursprung literarische Fiktion ist, in die Welt kommt und welchen Schaden es den Betroffenen zufügt. Der Interviewer hörte mir geduldig zu, ebenso sein Aufnahmegerät, doch von meinen Ausführungen war in der gedruckten Version des Interviews nichts mehr zu finden. Was hatte ich erwartet? Die Leute wollen Drama. Sie möchten eine Ehe zugrunde gehen sehen und kein Detail davon verpassen.
    Freunde, die wirklichen, haben mich manchmal gefragt, warum ich mir derartigen Klatsch so zu Herzen nehme. Nur diesen – der Rest ist mir egal. Ich habe eine wunderbare Beziehung zu Mirjam, und ich möchte, daß die Leute das wissen,und nicht, daß sie das Gegenteil denken – so kindlich naiv ist mein Wunsch.
    Am schlimmsten fand ich den Tratsch in der Zeit, als Tonio zur Schule ging und die Gefahr bestand, er könnte darauf angesprochen werden. Er hat sich nie etwas anmerken lassen, aber er war imstande, solche Dinge zu verschweigen, um seine Eltern zu schonen. Außerdem wußte er es besser. Er kannte genug Kinder geschiedener Eltern, fürchtete aber nie, auch seine Eltern könnten auseinandergehen. Wenn Tonio uns streiten hörte, verdrückte er sich, um sich nach einer halben Stunde zu erkundigen: »Na, alles wieder klar mit euch?«
    Mirjam und ich sind seit einunddreißig Jahren zusammen, davon dreiundzwanzig verheiratet. Den ersten seven-year itch haben wir übersprungen, doch danach entwickelten sich Krisen genug, wie zum Beispiel die an der Leidsegracht. Und ja, wir sind auch so manches Mal aufeinander losgegangen, und dabei ist es auch mal zu Handgreiflichkeiten gekommen, von beiden Seiten. (Nie in Tonios Anwesenheit.) In der Loenener Zeit sah ich mich einmal gezwungen, zwei Wochen das Haus zu hüten, nachdem Mirjam (das liebe Minchen) mein Gesicht mit Fingernägeln traktiert hatte, so daß es am nächsten Tag aussah wie ein Rosinenbrötchen mit diesen gebackenen, rot schimmernden konfitierten Früchten. Und ich hatte es verdient.
    Wichtiger ist, daß wir nie verstummt sind wie diese Ehepaare, die sich morgens im Frühstückssaal eines Pariser Hotels mürrisch schweigend gegenübersitzen. Mirjam und ich sind immer im Gespräch geblieben, wenn es nötig war auch mit harten Worten. Ich preise mich glücklich, daß Tonio seine Eltern so gekannt hat: miteinander redend, notfalls sich kabbelnd, aber selten in eisiger Stille.
    »Na, alles wieder klar mit euch?«
    Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn Tonios niederschmetternder Tod uns für immer hätte verstummen lassen. Zum Glück setzen wir unser nie abreißendes Gespräch auch im Schmerz fort, wenngleich wir ab und an schlicht zugeben müssen, daß es für manche begleitenden Schrecken keine Worte gibt.
    Minchen, ich liebe dich.
23
     
    Mirjam kam mit einer zweiten Runde Kaffee ins Schlafzimmer. Auch eine Neuheit der letzten Woche: daß sie mit dem Tablett gegen alles stieß, sogar gegen Schranktüren, die nicht direkt auf ihrem Weg waren. Abgesehen vom Gedächtnis hatte offenbar auch das Nervenzentrum ihrer Motorik Schaden erlitten.
    »Wenn man nicht direkt daran denkt …« sagte sie. »Ich meine, wenn es nur leicht im Hinterkopf bohrt, dann ist es so, als wäre es etwas Zeitweiliges. Etwas Scheußliches, aber vorübergehend. Und dann … das ist mir gerade in der Küche passiert … dann dringt es plötzlich, einfach so, zu einem durch, daß es … für immer ist. Er , Tonio, war zeitweilig da. Und jetzt für immer nicht mehr.«
    Mirjam setzte sich auf die Bettkante. Ihre Hand suchte vielleicht nach meiner, doch weil sie nicht richtig hinschaute, sondern den Blick durch die offene Balkontür nach draußen gerichtet hatte, landete ihre Faust mit kurzem Rascheln in der Zeitung, die aufgeschlagen über meinen Oberschenkeln

Weitere Kostenlose Bücher