Tonio
begriffsstutzig. Jedesmal wieder die Ungläubigkeit. Ist es denn wirklich wahr, ist er nicht mehr da, nie mehr?
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Donnerstag heute: Vor zwei Wochen habe ich ihn zum letztenmal lebend gesehen (wenn ich seine künstlich beatmete, hirntote Anwesenheit im AMC nicht mitzähle). In de Volkskrant eine Traueranzeige des St. Ignatiusgymnasiums, das Tonio von 2000 bis 2006 besuchte. Er war damals sehr entschieden, nachdem er auf den Kennenlernabenden verschiedener Amsterdamer Gymnasien gewesen war. Das Ignatius und kein anderes. Ich war so stolz auf ihn. Jetzt, vier Jahre nach seinem Abitur, lese ich in der Zeitung die Verszeilen von Auden, die Tonios ehemalige Lehrer für die Anzeige ausgesucht haben.
The stars are not wanted now;
put out every one,
Pack up the moon and
dismantle the sun
Unter den Beileidsbezeigungen, die mit der Post kommen, sind herzzerreißende Briefe, die, was Ton und Wortwahl angehen, die obligatorische Höflichkeit weit übersteigen. Offenbar verträgt der Ernst dieses Todesfalls wenig Heuchelei. Trotzdem geht jeder, unvermeidlich, schon bald wieder zur Tagesordnung über. »Das Leben geht weiter«, heißt es dann, und so ist es. Tonios Studienfreunde sitzen mitten in den Klausuren, und bald fangen die Ferien an.
Ein paar Freunde stehen, ohne aufdringlich zu sein, weiter auf Abruf bereit. Andere wahren willkommenen Abstand. In dem Standardbrief, den wir nach dem 25. Mai verschickten, stand ausdrücklich, wir könnten »vorläufig keinen Besuch zu Hause empfangen«. Es ist also eher so, daß wir den Menschen aus dem Weg gehen. Verlust und Trauer und Schmerz greifen einen an. Man wird mit etwas infiziert, das andere ebenfalls infizieren könnte, und man will nicht der Infektionsherd sein. Mirjam hat zumindest noch ihre Einkaufsrunde, bei der sie dann und wann von einer Nachbarin angesprochen wird, ich aber verhalte mich wie ein Leprakranker, der, seine Rassel schwenkend, gesunde Menschen von sich aus meidet.
Ich sehe also fast niemanden, doch wenn es passiert und dieser oder jener fragt: »Was heißt das für dich?«, schwanke ich zwischen »Mein Leben ist zerstört« und »Mein Leben ist vorbei«.
Mein Leben ist so zerstört wie Tonios Körper, als er von den Chirurgen des AMC geöffnet wurde.
Mein Leben ist vorbei und dient nur noch als Hülle für sein amputiertes Dasein.
Eine Kneipe oder ein Restaurant – ich darf gar nicht daran denken. Nur auf der Terrasse des Ziegenhofs im Amsterdamse Bos trinke ich ohne zu zögern Kaffee, weil ich mir einbilde, dort nie Bekannte zu treffen. Wir steigen ins Auto und fahren über das Stadionviertel und Buitenveldert (dicht am Friedhof vorbei) in den Bos.
Gestern verwiesen gelbe Schilder darauf, daß der Bosbaanweg wegen Ruderwettkämpfen geschlossen sei. Dasbedeutete einen großen Umweg durch ein nichtssagendes Viertel von Amstelveen und den südlichen Teil des Bos. Zu dieser Alternativstrecke waren wir in den vergangenen Jahren häufig gezwungen gewesen, doch trotz der regelmäßig auftauchenden gelben Schilder mit der Zahl 1 bog Mirjam jetzt wiederholt in die falsche Seitenstraße ein.
»Wirklich, ich kann mir nichts mehr merken«, sagte sie und hielt an. »Mein Gedächtnis ist seit dem dreiundzwanzigsten Mai ein Sieb. Die einfachsten Namen … ich komme nicht drauf.«
In der ersten Woche nach Tonios Unfall fehlten ihr ganze Tage. Regelmäßig passiert es, daß sie sich im Geschäft nicht erinnern kann, was sie einkaufen wollte, und nicht einmal weiß, warum sie hineingegangen ist. Dazu drückt sie sich nachlässig aus und sucht manchmal auf störend tastende Weise nach Worten. Wenn sie etwas sagt, das sich direkt auf den Tod ihres Sohnes bezieht, unterbricht sie sich öfter mit den Worten: »Gerade war es wieder so. Als ob ich mich selbst einen Satz aus einem Theaterstück sagen höre. Als ob ich eine Rolle spreche.«
»Vergiß nicht«, sagte ich, »dein Gehirn hat einen ungeheuren Schlag durch die denkbar schlechteste Nachricht bekommen. Tonio in kritischem Zustand … Tonio gestorben … so etwas mußte dein Gehirn bisher noch nie verarbeiten. Auf so etwas ist es nicht eingerichtet. Weißt du noch, dieser Autofahrer, der gegen eine Straßenbahn gefahren war? Er saß wie tot am Steuer, ohne die kleinste Schramme. Nicht die geringste Spur von Blut. Später stellte sich heraus, daß er einem inneren Trauma erlegen war. Genauso, stelle ich mir vor, kann das Gehirn durch den Schlag einer Unglücksnachricht durcheinandergeschüttelt werden.
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