Tonio
noch nicht geboren war, manchmal zusammen mit seinem Busenfreund Joris Abeling (umgekommen bei einem Autounfall 1998). Sie wollten damals von mir wissen, wie sie von ihrem Wohnort Oss aus die Welt erobern könnten. Bei Boudewijn Büch an der Keizersgracht hätten sie auch schon mal auf der Matte gestanden, um sich Rat zu holen, doch der habe sie fortgejagt. (Büch hatte ihnen nichtaufgemacht, sondern war von hinten zu ihnen getreten, als er vom Bäcker kam, ein halbes geschnittenes Vollkornbrot in der Hand: für die beiden Welteroberer ein tödliches Detail.) Im übrigen war Serge gar nicht so maudit , sondern kam nach Tonios Geburt, um zu gratulieren und einen silbernen Löffel mit einer Inschrift zu bringen. Daß er jetzt den Nachruf auf Tonio geschrieben hatte, bewies, daß auf der Welt nichts mehr so war, wie es sein sollte.
26
Später an diesem Sonntagabend, längst wieder zu Hause, rief mein Bruder an.
»Übrigens, auf dieser Site mit dem Nachruf auf Tonio, da hat sich eine Frau gemeldet … wart mal, jetzt hab ich‘s aus Versehen weggeklickt … ein französisch klingender Nachname. Mirjam soll gleich mal nachschauen. Sie schreibt da eine kurze Nachricht auf englisch, und der kann man entnehmen, daß Tonio ihre Tochter vor kurzem fotografiert hat. Eine gewisse …« (Ich hörte seine Fingernägel über die Tasten scharren.) »Nein, den Namen der Tochter nennt sie nicht. Der Name der Mutter ist Françoise Boulanger. Sie gibt auch den Nachnamen der Tochter nicht an. Ich denke, man muß davon ausgehen, daß er anders lautet als Boulanger.«
Die Mutter gab keine E-Mailadresse an. Mirjam rief Tonios Freund Jonas an: ob er die herausbekommen könne. Jonas machte sich an die Arbeit.
27
Letzte Nacht lag ich ab drei Uhr wach. Ich nahm einen Schluck Wasser, worauf es in meinem Inneren gewaltig zu rumoren begann. Gemurmel, kleine Explosionen, Schnalzen wie von einer zerplatzenden Kaugummiblase. Beim nächsten Schluck wurde es nur noch schlimmer. Es erinnertemich daran, was ich hörte, als ich mein Ohr an den Bauch der hochschwangeren Mirjam legte (das andere Ohr mit dem kleinen Finger verschlossen), Anfang Juni 1988. Es war Tonio, da in mir. Gurgelnd, rauschend, rumpelnd. Vielleicht hatte er so, aus den Dämmertiefen seines ausgeschalteten Bewußtseins heraus, sein eigenes Inneres rumoren hören, als sich das Chirurgenteam mit ihm beschäftigte.
Gegen halb neun öffne ich die Vorhänge im Schlafzimmer. Beim Anblick des hellblauen Himmels krampft sich mein Magen noch mehr zusammen, vor galligem Ekel. Mein Sohn ist tot und kehrt nie mehr zurück. Erneut erlebe ich die schreckliche Einsamkeit seines Endes. Blaulicht jagt über seinen reglosen Körper auf dem Pflaster, wie Lichtblitze in einer Discothek. (Sag mir, daß er nicht stöhnt vor Schmerz.)
Die Niederlage, ihn verloren zu haben. Es wird sich noch herausstellen, ob ich mein allesverzehrendes Mitleid mit Mirjam überlebe. Angst, die Kontrolle zu verlieren – über ihr und mein Leben. Furcht vor einer sich nachträglich nach außen kämpfenden Wut (die sich bisher ziemlich ruhig verhielt).
So beginnt für mich ein schöner Frühlingstag Anfang Juni 2010, der Monat, in dem Tonio zweiundzwanzig geworden wäre. Wir werden uns noch daran gewöhnen müssen, den aktiven »Geburtstag« durch den passiven »Tag seiner Geburt« zu ersetzen.
Eine Viertelstunde später kommt Mirjam zu mir. Bei ihr beginnt sich schon jetzt ein Muster herauszubilden: Morgens ist sie weniger traurig. Die wirklich lähmende Traurigkeit zieht am Nachmittag herauf. Sie nimmt dann (wie ich am Tag der Beerdigung) eine valiumähnliche Tablette, die allerdings nicht stark genug ist, plötzliche Weinkrämpfe zu unterdrücken – und das will sie auch nicht, denn »wenn ich weine, bin ich näher bei Tonio«.
Wir frühstücken nebeneinander im Bett. Für mich eine Brotkruste, um etwas im Magen zu haben, und ansonsten Espresso mit heißer Sojamilch. Mein Rezept war immer: zweiKapseln Espresso, mit etwas Wasser verdünnt. Seit Pfingsten verträgt mein Magen nur noch eine. Das Hochprozentige am Abend ist kein Problem, aber vielleicht laugt es meine Magenwand so aus, daß ich morgens nach warmer Milch lechze.
»Ich muß gleich die zusätzlichen Fotos abholen«, sagt Mirjam.
»Wieviel hast du nachbestellt … fünfzig?«
»Hundert.«
»Denk auch an die Umschläge. Diese kartonierten.«
Jeden Tag aufs neue fassungslos in die Leere starren. Ein solch unwiderruflicher Verlust macht
Weitere Kostenlose Bücher